: Hannahs Gespür fürs Wasser
Die 21-jährige Hannah Stockbauer könnte bei der WM in Barcelona endgültig der neue deutsche Schwimmstar werden. Das wäre freilich nur eine Zwischenstation auf dem Weg zu Olympia in Athen
aus Barcelona JÜRGEN ROOS
Wie gut, dass es Bademeisterinnen gibt. Die gute Frau trägt Schlappen und ein weißes T-Shirt mit dem Aufdruck „Aufsicht“. In Großbuchstaben. „Die Schuhe ziehen S’ aber aus“, sagt sie – freundlich, aber bestimmt. Beruhigend, dass im Röthelheimbad von Erlangen alles seine Ordnung hat. Eigenartig, dass man mit den Schuhen auch die Distanz ablegt. Mit nackten Füßen auf nassen Fliesen fühlt man sich Hannah Stockbauer schon gleich ein Stückchen näher. Die Schwimmerin zieht im 50-Meter-Becken ihre Bahnen. Im freien Stil, der eigentlich gar nicht so frei ist, wie sein Name glauben macht. Die Hände so weit wie möglich nach vorne ins Wasser werfen, dann in einer exakten Slalombahn unter dem gestreckten Körper durchziehen, dazu ein genau abgestimmter Beinschlag. Ein perfekter Bewegungsablauf, dieser Freistil.
Roland Böller, der Trainer, sitzt am Beckenrand. In der linken Hand hält er eine Stoppuhr, in der rechten einen Stift. Er notiert Zeiten und Strecken. Jetzt, ein paar Tage vor Hannah Stockbauers erstem Start bei der Weltmeisterschaft in Barcelona am Sonntag über 400 m Freistil, wird auf Geschwindigkeit trainiert: Acht mal 50 Meter im 400-Meter-Tempo, vier mal 100 Meter im 800-Meter-Tempo. Das ist gut für das Geschwindigkeitsgefühl. Auf Ausdauer zu trainieren wäre jetzt viel zu spät. Das haben die beiden schon hinter sich, knapp 3.000 Kilometer allein in diesem Jahr. Das ist ziemlich genau die Strecke Erlangen–Barcelona – und zurück. Ein gutes Omen.
Denn in der Hauptstadt Kataloniens möchte Hannah Stockbauer ihre Weltmeistertitel über 800 und 1.500 Meter verteidigen. Fachleute trauen der 21-Jährigen in diesem Jahr sogar noch mehr zu, denn auch über 400 Meter und mit der deutschen 4 x 200-Meter-Staffel ist sie am Start. Auch dass die 21-Jährige sich vor ihrer Abreise zur WM einen Finger der linken Hand verstauchte, kann an ihrer Favoritenstellung nichts ändern.
Seit genau zehn Jahren bilden Stockbauer und Böller eine Trainingsgemeinschaft. Eigentlich wäre ja eine kleine Jubiläumsfeier angesagt, aber die muss warten bis nach der WM. Barcelona geht vor. „Vor zehn Jahren“, sagt Böller, „war Hannah schon ganz weit vorne in ihrem Jahrgang. Und sie hatte ein unglaublich großes Gefühl für das Wasser.“ Dieses Gefühl ist keine Selbstverständlichkeit. „Das kann man Außenstehenden gar nicht so leicht erklären“, sagt Hannah Stockbauer. „ Wenn ich mal zwei, drei Tage nicht im Wasser bin, dann ist das Gefühl einfach weg.“ Dann gleiten die Hände einfach so durchs Wasser, ohne den nötigen Druck aufzubauen. Deshalb war Hannah Stockbauer in diesem Jahr fast jeden Tag im Becken. „Sie ist unheimlich diszipliniert“, sagt Roland Böller stolz.
Nach der WM-Absage von Franziska van Almsick ist die junge Frau aus Erlangen neben dem Wuppertaler Thomas Rupprath die größte Medaillenhoffnung des Deutschen Schwimmverbandes (DSV). Sie weiß das. Auch wenn sie steif und fest behauptet, dass sie bei der WM nur ihre Bestzeiten verbessern möchte. Ihr Umfeld weiß, dass neue Bestzeiten für Medaillen reichen würden, zu goldenen vermutlich. Weshalb dieses Mal das Feld rechtzeitig bestellt worden ist, anders als 2001, als Hannah Stockbauer im japanischen Fukuoka eher überraschend zwei Titel holte. Danach ließ sie sich von Fernsehblödler Stefan Raab veräppeln und sprach öffentlich von Nacktfotos im Playboy. Immerhin endete das Jahr versöhnlich mit der Wahl zur „Sportlerin des Jahres“.
Auch 2002 war für die junge Sportlerin ein Lehrjahr. Hin und her gerissen zwischen Abiturstress und einem „übertriebenen Trainingspensum“ (Böller) ging Stockbauer bei der EM in Berlin unter – und weinte danach bittere Tränen. „Wir haben uns zusammengesetzt, und ich bin sehr deutlich geworden“, sagt der Trainer. Trennung oder gar Karriereende standen nie zur Debatte, sehr wohl aber die Feststellung, dass eine olympische Medaille für eine Schwimmerin mit ihrem Talent das Ziel sein müsse. „Und dann haben wir einen großen Olympiaplan aufgestellt“, sagt Böller, „ohne Zeiten festzulegen, aber wichtige Punkte wurden schriftlich festgehalten.“ Eine Art Vertrag für das Unternehmen Gold quasi. Und wie zur Unterzeichnung nahm Hannah Stockbauer gleich über drei Kilo ab. 61,5 Kilo wiegt die 1,73 Meter große Modellathletin heute.
Hoch professionell geht es seitdem zu im Alltag von Hannah Stockbauer, nicht nur im Training. Die 21-Jährige hat einen Vertrag mit einer Marketingagentur abgeschlossen und sich mit einem Medienberater zusammengetan. Die Strategen im Hintergrund wittern die Chance, die Schwimmerin aus Erlangen in diesem Jahr endgültig auf Platz zwei hinter Franziska van Almsick zu positionieren. Da trifft es sich gut, dass die Berlinerin die WM schon frühzeitig abgesagt hatte. Dass dadurch enormer Druck aufgebaut wird, dessen ist sich Hannah Stockbauer bewusst. „Druck habe ich eigentlich gar nicht gerne“, sagt sie, „und ein bisschen Angst habe ich auch.“ Davor nämlich, dass sie sich selbst enttäuscht, ihren Trainer und die Leute, die so viel für sie getan haben.
Fertig werden muss die 21-Jährige damit ganz allein. Im Schwimmbecken. Mit ihrem unglaublich guten Gefühl für Wasser. Vor zwei Jahren wurde Hannah Stockbauer für ihre beiden WM-Titel von Fukuoka belohnt, indem sie im Nürnberger Tiergarten mit den Delfinen schwimmen durfte. „Ein Wahnsinnsgefühl“, schwärmt sie noch heute. Im September will Hannah Stockbauer zum zweiten Mal den Sprung ins Delfinarium wagen.