: Eine gelernte Beamtin übt Parlament
Eva Högl ist gerade als Nachrückerin in den Bundestag gekommen. Dass es bis zur nächsten Wahl nur noch wenige Monate sind, freut die 40-Jährige sogar. Sie hat dadurch Rückenwind für ihr eigentliches Ziel: die Direktkandidatur im sichereren SPD-Wahlkreis Mitte
NachrückerInnen wie jetzt Eva Högl kommen meist zum Zuge, wenn Bundestagsabgeordnete in eine Landesregierung wechseln, wie jüngst nach der Bayernwahl Horst Seehofer und zwei FDP-Männer. Oder wenn sie in die freie Wirtschaft oder zu einem Verband gehen, wie im Herbst Staatsministerin Hildegard Müller oder – im Fall von Högl – jüngst Ditmar Staffelt. 32-mal wurden in der vergangenen Wahlperiode auf diese Weise oder durch einen Todesfall Mandate frei. Im aktuellen Bundestag sind es bislang 24, bis auf Überhangmandate wurden alle wieder neu besetzt. Anders als in Großbritannien gibt es bei den Direktmandaten keine Nachwahl oder wie in den Vereinigten Staaten eine Ernennung durch den Gouverneur. Wer nachrückt, regelt allein die zur vergangenen Bundestagwahl aufgestellte Landesliste der jeweiligen Partei. STA
VON STEFAN ALBERTI
Das Halbrund der blauen Sitze ist voll besetzt, eher eine Seltenheit unter der luftigen Reichstagskuppel. Gleich will die Kanzlerin reden, das milliardenschwere Konjunkturpaket II begründen. Vorher aber hat der Bundestagspräsident noch etwas zu verkünden: Für den ausgeschiedenen Abgeordneten Ditmar Staffelt aus Neukölln gebe es eine Nachfolgerin, „die Kollegin Dr. Eva Högl“. Köpfe drehen sich suchend um, und eine Frau mit kurzen, blonden Haaren im schwarzen Hosenanzug erhebt sich aus den Reihen der SPD-Fraktion. Das Protokoll wird später „Beifall“ festhalten.
Die 40-Jährige hat noch eine Woche später in ihrem neuen Abgeordnetenbüro Unter den Linden leuchtende Augen: „Das wurde wegen der Regierungserklärung doch live übertragen, meine Freundinnen haben mich im Fernsehen gesehen.“ So schwärmen üblicherweise Teenies, die auf MTV für den Bruchteil einer Sekunde bei einem Konzert von Tokyo Hotel zu sehen sind. Högl aber ist eine gestandene Frau, die bis vor ein paar Tagen als Ministerialrätin ein Referat mit zehn Leuten geleitet hat und enge Mitarbeiterin des Bundesarbeitsministers war, der erst Franz Müntefering und dann Olaf Scholz hieß. Die Aura des höchsten deutschen Parlaments ist trotzdem Ehrfurcht gebietend. Zumindest für Högl: „Ich war sehr aufgeregt, und das hätte ich gar nicht gedacht, weil ich sonst ganz cool bin.“
Högl ist eine Nachrückerin. Acht Mandate holte die Berliner SPD bei der Bundestagswahl 2005, das neunte wäre an die Frau aus dem SPD-Wahlkreis Mitte gegangen, sie war die nächste auf der Landesliste. „Da habe ich schon gedacht, dass zwischenzeitlich ein Platz für mich frei wird, weil vielleicht einer in die Wirtschaft wechselt.“ Das passierte aber nicht. Bis Ditmar Staffelt eines Morgens Mitte November vergangenen Jahres anrief. Beide hatten bis 2005 zusammen im Wirtschafts- und Arbeitsministerium gearbeitet, wo Staffelt parlamentarischer Staatssekretär gewesen war. „Lass uns mal einen Kaffee trinken gehen, hat er gesagt“, erinnert sich Högl, „und ich hatte keine Ahnung, dass da noch was anderes kommt. Denn auf einen Kaffee wollten wir uns sowieso schon lange treffen.“ Nach den ersten Schlucken aber war klar: Staffelt würde beim Luft- und Raumfahrtkonzern EADS anheuern und den Bundestag verlassen, Högl hatte plötzlich doch die Möglichkeit, nachzurücken.
Vorsprung durch Präsenz
Statt „nachrücken“ muss man in ihrem Fall besser sagen: mal eben reinschnuppern. Nur noch acht Monate sind es bis zur Bundestagswahl, abzüglich Sommerpause und einer Phase ab Ostern, in der wegen des beginnenden Wahlkampfs inhaltlich nicht mehr viel passieren wird. Auch für Högl wäre es unter normalen Umständen denkbar gewesen, die Sache abzulehnen. Doch die Umstände sind derzeit nicht normal. Denn Högl hatte sich ohnehin seit vergangenem Sommer erneut um eine Bundestagskandidatur beworben, sie will wie zwei andere Bewerber für die SPD im Wahlkreis Mitte antreten. Dort zieht sich zum Herbst Parteikollege Jörg-Otto Spiller nach 15 Jahren aus dem Bundestag zurück.
Spiller gewann bei den vergangenen Wahlen mit fast 20 Prozentpunkten Vorsprung. Damit ist er in eine Dimension vorgestoßen, die Kreuzberger Ströbele-Verhältnissen ähnelt – als gewählt in diesem Wahlbezirk gilt, wen immer die Partei an seiner Stelle nominiert. Und so ist die Bundestagswahl in Mitte de facto auf den 31. Januar in die Ernst-Reuter-Oberschule vorgezogen, wo 112 SPD-Delegierte über den Direktkandidaten entscheiden werden. „Jetzt schon im Parlament zu sein gibt mir dafür ordentlich Rückenwind“, sagt Högl.
Für Ralf Wieland (52) war darum jener 14. November, als Staffelts Rückzug publik wurde, einer der weniger schönen Tage des vergangenen Jahres. Er ist neben Frank Kirstan (43) Högls Gegner in diesem Dreikampf in Mitte, und ihm war sehr schnell klar, was die Sache für ihn bedeutete. „Meine spontane Reaktion darauf ist nicht druckreif“, sagt er, „der Wechsel hat mir sicher nicht geholfen.“ Denn jetzt steht auf jeder Einladung, auf jeder Liste „MdB“, Mitglied des Bundestags, hinter Högls Name. Aus der Konkurrenz auf Augenhöhe ist eine Situation geworden, in der eine plötzlich schon da ist, wo sie alle drei hinwollen.
Wieland ist seit Jahren ein führender Name in der zweiten Reihe der Berliner SPD, erst als Landesgeschäftsführer, seit über vier Jahren als Chef des mächtigen Hauptausschusses im Abgeordnetenhaus. Er kommt mehr wie der klassische Wahlkreisabgeordnete daher, der weniger das große Rad drehen als für seinen Bezirk im Bundestag möglichst viel herausholen will. Auch Högl, die 2001 aus Niedersachen nach Berlin kam, kennt sich in Mitte aus und ist vernetzt. Aber ihr großes Thema ist seit Jahren die Europapolitik, angefangen bei ihrer Doktorarbeit als Juristin bis zu ihrer jahrelangen Tätigkeit als Europabeauftragte im Arbeitsministerium. Als Expertin in diesem Bereich holte die niedersächsische SPD sie zum dortigen – letztlich erfolglosen – Landtagswahlkampf 2008 in ihr Schattenkabinett.
Nun sind die ersten zwei Wochen in der neuen Rolle vorbei, und Högl hat feststellen müssen, dass auch hochrangige Ministerialbeamte wie sie von den wahren Parlamentsinterna vieles nicht wissen. Im Plenum etwa geht es offenbar nicht anders zu als am Ballermann, hat sie gelernt. „Hier gibt es auch das Mallorca-Prinzip: Da legen Leute schon mal ganz dezent vor der Sitzung Schals und Taschen auf die guten Plätze und gehen dann erst mal wieder.“ Högl war zudem trotz all der Jahre im Ministerium nicht aufgefallen, dass es auf der Regierungsbank keinen Applaus gibt. Das sei so eine Art ungeschriebenes Gesetz, klärte sie bei ihrer ersten Sitzung eine befreundete Abgeordnete auf, die bei Högl gleich um die Ecke wohnt.
Zu Fuß zur SPD-Kneipe
Um die Ecke – das ist sowieso ein Begriff, der trotz ihres Themenschwerpunkts Europa Högls politisches Leben prägt. Denn ihre Wege in der Politik sind so kurz wie die einer Gemeinderätin. Kaum anderthalb Kilometer sind es von ihrem Zuhause bis zum Bundestag, nur ein bisschen weiter war es bislang zum Ministerium. Und für den Weg zur Stammkneipe ihres SPD-Ortsverbands Rosenthaler Vorstadt kann sie ihr schwarzes 8-Gang-Fahrrad gleich ganz stehen lassen.
Die Juristin ist gut vorbereitet auf ihre neue Aufgabe: Sie kennt über den Job im Ministerium die Abläufe des parlamentarischen Geschehens, sie hat mit Europa bereits ein Fachthema, das zudem wegen der Europawahl am 7. Juni die kommenden Monate prägen dürfte. Und nicht zuletzt ist Högl als Ministerialbeamtin privilegiert, was die Arbeitsplatzsicherheit im alten Job angeht, falls sie wieder aus dem Bundestag rausmuss: „Mein Mann könnte dieses Nachrückding als selbstständiger Architekt gar nicht machen.“ Eine gewisse Jobsicherheit gibt es allerdings nicht nur im öffentlichen Dienst. Paragraf 2 des Abgeordnetengesetzes sichert allen Abgeordneten einen Kündigungsschutz zu, der bis ein Jahr nach Ende des Mandats reicht – was zumindest Kurzzeitnachrückern etwas Sicherheit gibt.
Es ist Högls erstes Abgeordnetenmandat überhaupt, trotz aller aktuellen und früheren Parteiämter, die sie Ende der 90er-Jahre sogar zeitweise in den SPD-Bundesvorstand brachten. Jetzt fängt sie ganz hinten an, ein Ausschussvorsitz oder Ähnliches ist in weiter Ferne. In einer solchen Novizenrolle war sie seit Langem nicht. „Mach das nicht, da hast du doch viel weniger zu sagen als im Ministerium“, hätten ihr nicht nur Freunde, sondern auch andere Abgeordnete geraten. Högl entschied anders. Weil das Mandat mehr Freiheiten bringt, selbst den Tag zu gestalten, jenseits einer Ministerialbürokratie – und mehr direkte Verantwortung etwa bei Entscheidungen über Kriegseinsätze wie in Afghanistan. „Ich kann nicht mehr nach oben delegieren, es reicht nicht mehr, ein schlaues Papier für den Minister zu schreiben – jetzt muss ich selbst die Hand heben.“