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Archiv-Artikel

Der Fluch des Vaters

Die Verantwortung des Einzelnen: Joakim Garffs Kierkegaard-Biografie

VON MARION LÜHE

Die bürgerliche Hölle seiner Kindheit könnte Ingmar Bergman nicht besser ersonnen haben. Als siebtes Kind eines Dienstmädchens und eines Kaufmanns, der sich aus bitterer Armut zu einem der reichsten Männer Dänemarks emporgearbeitet hatte, wuchs Sören Kierkegaard trotz des Wohlstandes seiner Familie in karger Umgebung und gedrückter Stimmung auf. Mit seiner unbedingten Forderung nach Sparsamkeit und Disziplin prägte der schwermütige Vater, der bei Kierkegaards Geburt 1813 sechsundfünfzig Jahre alt war, den Jungen früh. In seinem Tagebuch notierte Kierkegaard: „Barmherziger Gott, wie doch auch mein Vater in seiner Schwermut furchtbares Unrecht wider mich getan hat – ein Greis, der seine ganze Schwermut einem armen Kinde auflädt, um nicht von dem noch Entsetzlicheren zu sprechen, und doch bei all dem der beste Vater.“ Was das „noch Entsetzlichere“ sei, darüber schweigt er.

Bei der Rekonstruktion des düsteren Geheimnisses, das auf Kierkegaard lastete, stützt sich sein Biograf vor allem auf die pseudonymen Schriften. Ohne Kierkegaards Philosophie auf eine einzige traumatische Erfahrung reduzieren zu wollen, erkennt Garff im Verhältnis zum geliebt-gehassten Vater den Dreh- und Angelpunkt für das Verständnis des Werks. Hatte sich der Vater bei einem Bordellbesuch die Syphilis zugezogen und glaubte er, sie nun auf seine Kinder übertragen zu haben, von denen die meisten in jungen Jahren starben? Sah er in dem Aussterben der Familie eine Strafe Gottes für einen Fluch, den der Vater einmal als kleiner Junge ausgestoßen hatte? Mitreißend erzählt Garff, wie sich der Sohn, der plötzlich hinter der väterlichen Frömmigkeit einen Abgrund von Lüge und Heuchelei erkannte, durch das exzessive Schreiben von Angst, Schuldgefühlen und Schmerz zu befreien suchte.

Mit leichter Feder zeichnet der 1960 geborene Biograf und Mitherausgeber der Gesamtausgabe von Kierkegaards Schriften dessen Entwicklung nach: vom schüchternen Jungen zum eitlen, exzentrisch gekleideten Dandy, vom Theologiestudenten zu dem verbissenen, von der Presse verspotteten Sonderling, der in seinen letzten Jahren eine wahre „theologische Einmannrevolution“ gegen das „amtliche Christentum“ veranstaltete. In Flugblättern griff er die Lebenslügen der Kirchenvertreter scharf an und forderte, ein wahrer Christ müsse seine Existenz so führen, als lebe er gleichzeitig mit Christus und nicht im sicheren historischen Abstand. Entgegen früheren Darstellungen eines manisch-depressiven, in sich gekehrten Denkers gelingt es Garff, den ambivalenten Charakter des literarischen Philosophen zu fassen: introvertiert und aufgeschlossen zugleich, vom Todesgedanken gefangen und voll Lebensfreude, unaufhörlich in Selbstreflexion gefangen und doch offen für seine Mitmenschen aus dem einfachen Volk, die dem notorischen Spaziergänger auf seinen täglichen Wanderungen durch Kopenhagen begegneten.

Stets wahrt der Autor (der seine Promotion zum Thema Ironie schrieb) ironischen Abstand zu seinem Gegenstand und entgeht damit der Gefahr, den Mythos fortzuschreiben, an dem Kierkegaard selbst unermüdlich bastelte. Wie sehr Camouflage und Rollenspiel sein Wesen bestimmten, zeigt seine Affäre mit Regine Olsen, die selbst bei Garff fast romanhafte Züge annimmt. Den Heiratsantrag, den der siebenundzwanzigjährige Kierkegaard der zehn Jahre Jüngeren 1840 machte, bereute er sofort. Ein Jahr später löste er die Verlobung auf und verfasste in einem wahren Schreibanfall sein Hauptwerk „Entweder-Oder“, das auch das berühmte „Tagebuch des Verführers“ enthält. Dieses „verwickelte Prachtstück“ der Liebesliteratur (so John Updike in seinem Nachwort zur deutschen Neuausgabe) war der Versuch, sich der Geliebten als Don Juan zu präsentieren, um sie seiner leichter zu entwöhnen.

In der Auseinandersetzung mit Kierkegaards Philosophie und seiner radikalen, gegen Hegels Begriff der Objektivität gewandten Auffassung von der subjektiven Wahrheit des Einzelnen verzichtet Garff weitgehend auf undurchsichtiges Fachkauderwelsch und lässt häufig Quellen sprechen. In Kierkegaards Äußerungen über Ethik und Ästhetik, über Angst und Verzweiflung als Grundbedingungen menschlicher Existenz erkennt der Biograf nicht nur abstrakte Denkgebäude, sondern immer auch eine unmittelbare Reaktion auf dessen persönliche Lebenserfahrungen und -krisen. So wie Kierkegaard der vom deutschen Idealismus geprägten Philosophie vorwarf, sie habe vergessen, „was es heißt, Mensch zu sein“, so scheint Garff in gängigen Werkinterpretationen bisweilen den Menschen Kierkegaard zu vermissen. Nach der „systematischen Vertreibung des Mannes aus seinem Werk“, die ältere Biografien aus Furcht vor einer Banalisierung des großen Denkers betrieben hätten, setzt sein unverstaubtes Buch jenseits aller Mythen und Mystifikationen die Person wieder in ihr Recht.

Von persönlichen Verwicklungen und Kränkungen des streitbaren Theologen und Philosophen, der sich in den letzten Lebensjahren von der Öffentlichkeit verunglimpft sah, zeugen auch die „Geheimen Papiere“, eine ebenso unterhaltsame wie erhellende Auswahl von zu Lebzeiten unveröffentlichten Tagebucheinträgen, Entwürfen und Gedankensplittern. Sie zeigen den konservativen Kulturkritiker Kierkegaard, der sich gegen die demokratischen Tendenzen der 1848er-Revolution wandte und beleidigt auf seine Zeitgenossen, vor allem die Presse, Journalisten und die gaffende Masse der Leser, einprügelt. Hinter den verbalen Attacken gegen die Herrschaft der Majorität ist stets die Angst vor einem Verlust an Individualität spürbar, die Herrschaft eines „man“, die er mit überraschender Hellsichtigkeit zu Beginn des Medienzeitalters prophezeite. „Im Verhältnis zum Mündlichen kann wohl der Einzelne immer sagen: ich habe gehört, ‚man‘ sagt. Aber da er doch selbst dieses ‚man‘ auch nicht herbeischaffen kann, bleibt doch ein Stück Verantwortung bei ihm.“ Die Zeitungen ziehen die Einzelnen aus dieser Verantwortung, machen sie zu „Publikum, Menge usw.“ und leben davon, „das böse Prinzip im Menschen in Bewegung zu setzen: das numerische.“ Noch in der tagespolitischen Auseinandersetzung scheint immer der Kern von Kierkegaards Existenzphilosophie hindurch: den Einzelnen aus der Anonymität des „man“ zu befreien.

Joakim Garff: „Sören Kierkegaard. Biographie“. Aus dem Dänischen von Hermann Schmid und Herbert Zeichner. Hanser Verlag, München 2004, 944 Seiten, 45 Euro Sören Kierkegaard: „Geheime Papiere“. Aus dem Dänischen übersetzt und herausgegeben von Tim Hagemann. Eichborn Verlag, Frankfurt a. M. 2004, 300 Seiten, 27,90 Euro Sören Kierkegaard: „Tagebuch des Verführers“. Aus dem Dänischen von Heinrich Fauteck. Artemis & Winkler, Düsseldorf 2004, 199 Seiten, 18 Euro