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Archiv-Artikel

Nester für Menschen

Überbleibsel der Ökologiebewegung, Traum vom individualisierten Wohnen: Im Tiergarten, in der Nähe der Nordischen Botschaften, stößt man auf die Baumhäuser des Architekten Frei Otto

VON FRIEDRICH VON BORRIES

Nein, schön sind sie nicht. Sie sehen merkwürdig aus, fast als wären sie von einem anderen Planeten, zumindest aus einer anderen Zeit. Im Tiergarten, in der Nähe der Nordischen Botschaften, stößt man auf eine kleine Gruppe merkwürdiger Gebäude. Die Häuser sehen irgendwie wild aus: Unterschiedliche Materialien prallen aufeinander, spitzwinklige Wintergärten und begrünte Balkone schießen aus der Fassade, weiße neben lila Fenstern, Backstein trifft auf Naturholz, Gerades auf Schiefes.

Berlin, 1980. Die Mauer steht noch, die Ökobewegung blüht. Jute statt Plastikbeutel und selbst geschrotetes Müsli treten ihren Siegeszug durch bundesrepublikanische Haushalte an.

Der für seine architektonischen Experimente bekannte Architekt Frei Otto arbeitet in dieser Zeit ein Konzept für eine neue ökologische Wohnform aus: individualistisch, mitten in der Stadt und doch im Grünen. Seine Idee dafür sind Hochhäuser, die wie Bäume aussehen und in deren Zweigen sich Nester für Menschen befinden sollen. Als Standort kommen Grundstücke in der Nähe der aufgegebenen, verwilderten Bahnhöfe in Kreuzberg infrage. Schließlich ist das zu dieser Zeit eine Gegend, die an der Mauer und damit am Rand von Westberlin liegt.

Aber dann kommt alles anders: Statt in Kreuzberg sollen die Häuser in Tiergarten errichtet werden, und aus der Idee von den Baumhochhäusern werden Häuser mit sechs Geschossen. Frei Otto und sein Berliner Projektpartner Hermann Kendel haben dazu eine besondere Idee. Das Bild ganz unterschiedlicher, aufeinander gestapelter Häuser vor Augen, entwerfen sie ein Skelett, das lediglich mit der wichtigsten Infrastruktur ausgestattetet wird. In dieses Skelett kann sich dann jeder Bewohner, im Eigenbau oder mithilfe eines frei gewählten Architekten, sein eigenes, individuelles Haus einbauen. An die Stelle der langweiligen, konformistischen Reihenhaussiedlung an der Peripherie sollen hier aufeinander gestapelte Einfamilienhäuser treten, die ökologisch und Energie sparend und mit Garten, Balkonen, Wintergärten und Dachterrassen ausgestattet werden sollen.

Doch als das Projekt 1990 schließlich fertig ist, hat sich die Welt verändert – nicht nur die Mauer ist weg, sondern auch die Ökowelle. Und infolge der langen Planungsphase springt der Architekt Frei Otto ab. Geblieben aber war: der Traum vom individualistischen Wohnen, der viele Bewohner an die Häuser bindet.

Eine davon ist Ute Schulte-Lehnert. 1985 hörte die junge Architektin eher zufällig von dem Baumhausprojekt und war sofort begeistert. Und ganz im Sinne Frei Ottos baute sie ihr zweistöckiges Haus selber aus.

Das wirkt von außen eher unauffällig. Eine massige Betontreppe, die zu den anderen, höher gelegenen Häusern führt, zieht zunächst alle Blicke auf sich. Im Innern erinnert auf den ersten Blick alles an ein typisches kleines Vorstadthaus: Rechts führen ein paar Treppen ins obere Geschoss, und links befindet sich die Küche, die sich zum Wohn- und Esszimmer hin öffnet. Doch beim Blick in Richtung Garten stutzt man, denn es scheint, als würde das Wohnzimmer direkt in den Wintergarten übergehen. Pflanzen wachsen aus der Erde, und durch die großen Glasfenster sieht man Bäume und dichtes Grün. „Ursprünglich wollte ich im Wintergarten sogar gar keine Fußböden, sondern nur Erde haben, aber dann hat mich der Wintergartenbauer überredet, wenigstens ein Paar Kacheln zu legen.“

Wie die meisten Erstbewohner lebt Ute Schulte-Lehnert mit ihrem Mann auch heute noch in ihrem Haus, und wie die meisten Bewohner identifiziert sie sich mit der Idee der Baumhäuser: „Ich mag, dass sich das alles von der Einheitsarchitektur abhebt, das ist spannend und etwas Besonderes.“ Dennoch redet sie heute eher nüchtern über diese kleine Utopie des „grünen“ Wohnens in der Stadt. Denn richtig ökologisch sei das Projekt nicht geworden. Nicht nur weil die Technik heute schon viel weiter ist, sondern auch, weil aufgrund der Komplexität des Grundskeletts, in das jeder Bewohner sein eigenes Haus einbauen kann, deutlich mehr Material eingesetzt wurde, als nötig gewesen wäre – viel mehr jedenfalls, als wenn man ganz normal eine Wand auf die andere gestellt hätte. Und auch das viele Holz, das im Innern verbaut ist, würde Ute Schulte-Lehnert heute am liebsten durch das ein oder andere Material austauschen.

In den frühen Neunzigern, als die Gebäude fertig gestellt waren, fiel die Kritik harsch aus. Der Mangel an architektonischee Formensprache und ästhetischer Verbindlichkeit wurde beklagt; außerdem wurde kritisiert, dass das Entstandene lediglich auf Zufall, Freizeitarchitektur und Eigenwilligkeit beruhe. Tatsächlich sind die Baumhäuser fast so etwas wie ein Abschied von Architektur. Denn der Architekt plant nicht mehr ein Ganzes, sondern stellt nur einen Rahmen zur Verfügung. Jeder neu hinzuziehende Bewohner kann sein eigenes, neues Haus in das Skelett einbauen. Bauen wird etwas, was sich ständig verändert, immer wieder neu wird. Auch wenn das bedeutet, dass das Gebaute nie fertig wird. „Es bleibt immer ein Provisorium“, sagt Ute Schulte-Lehnert.

Was ist aus heutiger Sicht das Utopische an den Baumhäusern? Es ist nicht der Versuch, ökologisch zu bauen, und auch nicht die Idee vom grünen Wohnen in der Stadt. Die Baumhäuser sind vielmehr ein Gegenentwurf zum Absolutheitsanspruch der Moderne, sie sind ein Eingeständnis an Pluralismus und Individualisierung. Es ist der Versuch, den Bewohnern Möglichkeiten zur individuellen Entfaltung zu geben. Herausgekommen ist dabei eine skurrile Patchworkästhetik, die nicht jedem gefällt. Das ästhetische Durcheinander entspricht vielleicht nicht unseren heutigen Vorstellungen von „schöner Architektur“, aber es steht für Freiheit und Vielfalt – und genau das ist das Utopische an diesem architektonischen Experiment. Und auch wenn Frau Schulte-Lehnert heute nicht mehr als Architektin arbeitet und es bei dem Projekt Baumhaus viele Probleme gab, sagt sie: „Ich würde es noch mal machen.“