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Archiv-Artikel

Die üblichen Verdächtigen

Eine lange Veranstaltungsreihe als bunter Gemischtwarenladen, zerfasernd in kleinformatigen Diskurs-Aktionismus: Das „theaterformen 2004“-Festival in Braunschweig und Hannover

Es gibt echtes Leben nur im Echten. Alles andere ist Entstellung. Spiel. Show

VON JENS FISCHER

„Glotzt nur, ich bin ein Star“, krakeelt Miss Überkandidelt, Sophie Rois, während der Uraufführung von René Polleschs „Hallo Hotel …!“ Sie exhibitioniert den Satz zu einer ausladenden Pose und stiert provokant ins Publikum. Das lacht – irritiert. Gern würde man sich in die Theaterillusion einfühlen und romantisch zum Star emporglotzen, ihn als Projektionsfläche eigener Fantasie benutzen. Aber deutlich ist, dass genau dieser Blick als ein unerwünschter schon mitgespielt ist. Rois will nicht nur voyeuristisch beäugtes Objekt der versammelten Öffentlichkeit sein, sondern auch Subjekt ihrer theatralen Handlung. Gleichzeitig Darstellerin und Dargestelltes. Das setzt den Zuschauer als produktives Gegenüber voraus. Hier muss gearbeitet werden: Identitäten, Positionen, Bilder, die Konstruktionen von (Theater-)Welt sind in Frage zu stellen, Debatten über das soziale Elend der Verhältnisse zu führen. Schließlich befinden wir uns im 17-tägigen Festivalseminar „theaterformen 2004“, das den passiven Rezipienten als aktiven Konsumenten ins rechte Licht setzen möchte.

Das wahrhaft Politische und die „Essenz“ des Theaters seien „die Zuschauer, das Volk“, verkündet Festivalleiterin Veronica Kaup-Hasler in ihrer Eröffnungsansprache. Es gelte, nicht mehr nur die ikonografisch-symbolische Zeichenwelt der Aufführungen auszudeuten, sondern Handelnder der Kunstproduktion zu werden. Um das zu verdeutlichen, wurde der Schweizer Performer San Keller geladen, vom Spielort Braunschweig zum Spielort Hannover zu wandern: 70 Kilometer. Verbindungskunst. Kellers Maßgabe: Nur in Begleitung ist Fortbewegung erlaubt. Gerade im Bahnhof eingefahren, begleitet ihn sogleich ein Journalist zum Sektbüfett. Später stellt sich der Rüdiger Nehberg der Konzeptkunst an die Ausfallstraße, hält das Schild „Wandern Sie mit mir ein Stück Richtung Hannover“ hoch, lässt sich ansprechen, bequatschen, bekümmern, begleiten: als passive Skulptur vom aktiven Betrachter zur Bewegung erlöst. Was so gut klappt, dass Keller bereits nach vier Tagen in Hannover einmarschiert.

Das Festival-Hauptprogramm ist theoretisch weniger schlicht, dafür eine Art Remake der letzten Theater-der-Welt-Veranstaltung. Es gastieren Johan Simons, Frank Castorf, Rabih Mroué, Forced Entertainment, Rimini Protokoll, Krzysztof Warlikowski – dazu René Pollesch, Christoph Marthaler, Gob Squad und Alvis Hermanis. Die üblichen Festivalverdächtigen also. Das mag als ästhetische Nachhilfe für Niedersachsens Osten funktionieren. Für den überregionalen Mehrwert muss man die Gewichte etwas verschieben. Zu den 15 Theaterproduktionen kommen über 70 Beiprogrammpunkte. Thema: „REpublicACTION“. Und los geht’s mit Vorträgen, Dialogen, Diskussionen, Filmvorführungen, Lesungen, Workshops. Ein Ideenwettbewerb für „Evolutionäre Zellen“ einer besseren Gesellschaftsgestaltung wird ins Leben gerufen. Kritiker schreiben ihre Rezensionen sofort nach den Premieren auf riesige Leinwände. Wen auch das langweilt, der kann in der Foyer-Bücherei die Lieblingsdruckwerke der Festivalbeteiligten durchschmökern. Eine Veranstaltungsreihe als Gemischtwarenladen, zerfasernd in kleinformatigen Diskurs-Aktionismus für miniaturisierte Zuschauermengen.

Das Bühnengeschehen selbst vermittelt wenig Neues in Sachen Partizipation des gemeinen Besuchers. Zumeist ist nur der Entzifferer und Interpret des Regietheaters gefragt. Bei Hermanis’ „Revizor“-Inszenierung darf der Betrachter auch Erschnüffler sein, was auf der Bühne alles so gekocht wird. Einen Theorieschub erhält das Festival durch den Besuch Antonio Negris. Er veredelt den Zuschauer als „Nachschöpfer des Gemeinten“ zur Trinität: Sei er doch gleichzeitig er selbst und der Zuschauer und der Autor des Bühnengeschehens. Kein Wunder also, dass er sich da überfordert fühlt. Den spannendsten Blick aber, den das Festival ermöglicht, ist der über die Schultern von Edit Kaldor. Eine echte Entdeckung, diese in Amsterdam lebende Ungarin. Für „or press escape“ projiziert sie das Bild ihres Computermonitors auf eine Leinwand, lässt Tastaturgeklacker und Mouse- Geklicke hören. Das ist alles.

Doch trotz körperlicher Abwesenheit wird ein Charakter lebendig anhand seiner alltäglichen EDV-Verrichtungen. Briefe schreiben, Mails beantworten, mit der Web-Kamera den Nachbarn beobachten, Tagesplaner aktualisieren. Spams funken dazwischen. Schnell noch die Vergangenheit aufräumen, also alte Dateien löschen. Ab in den Chat-Room: Prinzensuche. Das hat Witz und einen doppelbödigen Spannungsbogen. Gebannt verfolgt man die Geschichte und schaut dem Denken bei der Arbeit zu: den Bewegungen des Schreibens, Löschens, Neuformulierens, Surfens im Netz. Arbeitsplatztheater auf der Windows-Bühne. In „New game“ präsentiert Kaldor Computerspieltheater auf der realen Bühne. Die Bildschirmdarstellung wird live von Schauspielern und 3-D-Animateuren gestaltet. Das „Game“: Ein Mann und eine Frau durchlaufen verschiedene Levels, also Lebensphasen. Bei der Erstbegegnung, Liebe auf den ersten Blick, stürzt der Computer ab. Es gibt ein echtes Leben nur im Echten. Alles andere ist Entstellung. Spiel. Show. Gerade auch in der medialen Rekonstruktion von Leben.