: Suche nach der Leichtigkeit des Sprunges
Er ist schmal wie ein Laternenpfahl und nur 67 Kilogramm schwer: Marius Hanniskes Körper scheint für das Fliegen gebaut. Der 18-jährige Berliner Abiturient gilt im Deutschen Leichtathletik-Verband als kommendes Hochsprung-Talent
So sieht er also aus, der 18-Jährige, von dem der Deutsche Leichtathletik-Verband sagt, ihn begleite ein Hoffnungsschimmer: Marius Hanniske lässt seinen schlaksigen Körper in einen Stuhl fallen. Der blonde Pony, der ihm sonst bis in die Augen fällt, ist mit Gel gebändigt. Hanniske ist dürr, spindeldürr. 67 Kilogramm verteilen sich auf 1,92 Meter Körpergröße. Die Augen blicken scheu. Seine Antworten sind kurz.
Die lakonischen Sätze wie auch seine Erscheinung vermitteln eine Fragilität, die partout nicht passen mag zu den Leistungen, mit denen Hanniske, Abiturient der Werner-Seelenbinder-Gesamtschule in Berlin-Hohenschönhausen, in dieser Saison Aufsehen erregte. Schon sind die Vergleiche da: ein neuer Dietmar Mögenburg, ach was, womöglich ein neuer Carlo Thränhardt, Inhaber des deutschen Rekords mit 2,42 Meter, ist im Kommen. Hanniske empfindet die Vergleiche als schmeichelhaft, sogar als Ehre; die Last, die solche Namen aufbürden können, will der Athlet der LG Nord Berlin derweil nicht wahrhaben. „Ich finde das schön“, sagt er.
Die Hochsprung-Tradition hierzulande verlangt nach frischen Talenten: Marius Hanniske könnte einer sein, der das Erbe weiterträgt. Es würde für ihn keinen Sinn machen, die Erwartungshaltung, mit der sich seine frühen Höhenflüge in die Wachstafel des deutschen Hochsprungs einprägen, als Qual zu empfinden. Noch findet er seine Verbesserung von 22 Zentimetern in einer Saison als „unfassbar. Ich habe erst in einem Jahr damit gerechnet.“ Noch strahlt er eine Unbeschwertheit aus, die seine sprunghafte Entwicklung nur beschleunigen kann.
Anfang des Jahres stand die Bestleistung des im brandenburgischen Forst geborenen Hanniske bei 2,01 Meter. Er übertraf sie. Allerdings mit seinem „falschen Fuß“. Denn nach dem Wechsel von der Sportschule Cottbus nach Berlin zu Trainer Rainer Pottel hatte er Schwierigkeiten mit seiner Sprungtechnik, das heißt mit der für das normale, linke Sprungbein. „Ich musste erst im Kopf mit der richtigen Seite frei werden“, sagt er. Mit dem falschen Bein sprang er die ganze Hallensaison über. Er kam auf 2,03 Meter. Im März stellte er wieder auf das linke Bein um. Es ging rapide voran. Bei den deutschen Meisterschaften in Ulm wurde er Zweiter mit 2,23 Meter. In diesem Wettkampf verbesserte er sich um 9 Zentimeter.
Der Hoffnungsträger hob ab, schlug der Schwerkraft ein Schnippchen, bog sich über die Latte und landete weich. Die harte Zeit kommt immer erst nach der Phase, in der scheinbar alles leicht fällt. Er wird lernen müssen, mit Stagnation umzugehen. Doch diese Erfahrung ist ihm nicht neu. „In Cottbus war ich zeitweise schon froh, wenn eine Zwei vor dem Komma stand, jetzt steht sie danach – das ist sehr komisch.“ Die Zwei stand auch nach der deutschen U-20-DM hinterm Komma, die eine Woche nach Ulm ausgetragen wurde. Dort spürte er, dass die Leichtigkeit des Sprungs schnell verfliegen kann, einfach so. „Ich habe nur vier Stunden vorher geschlafen und mir über alles Mögliche den Kopf zerbrochen, völlig sinnlos.“
Es wird künftig nur noch zentimeterweise nach oben gehen, das hat ihm Trainer Pottel klar gemacht. Er war es auch, der seinem Athleten die Grundlagen der Technik in ungezählten Einheiten oktroyierte. Beide sahen sich Fotos von Dick Fosbury an, dem Erfinder des Flopp. Fosbury hat auf Bildern das Kinn an der Brust kleben, bevor er abhebt. Für Hanniske war die Kopfhaltung des Altmeisters ein Zeichen, nicht nur die Latte zu fixieren, sondern zunächst „an das Fliegen zu denken“. Das Überqueren der Latte ergibt sich dann von selbst.
Pottel sollte mit seiner Analyse Recht behalten, ebenso mit der Voraussage, Hanniske drohe, nach einer Zeit des ungebremsten Fortschritts, in ein Loch zu fallen. Der Mann, der schmal wie ein Laternenpfahl ist, hofft allerdings, dass ihn die Schwäche nicht schon bei der EM der unter 20-Jährigen in Tampere überkommt – bei seinem ersten großen Auftritt im Trikot des Nationalteams. Am Sonntag ist er nach Finnland aufgebrochen. Im Gepäck hatte er ein wichtiges Utensil, das auch Thränhardt für unverzichtbar hielt: lange Kniestrümpfe. „Die bringen nichts“, sagt Marius Hanniske, „sehen aber gut aus.“ Er scheint zu wissen, worauf es ankommt.
MARKUS VÖLKER