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Archiv-Artikel

Entscheidung am Hinterrad

Der verloren geglaubte Radsport-Sohn der Deutschen ist zurück. Ullrich profitiert von Armstrongs zeitweiliger Schwäche

von MATTI LIESKE

Ach, es ist so wunderbar: Das altvertraute Gesicht mit den putzig geröteten Pausbackansätzen; die runden Kinderaugen, meist auf den Allerwertesten von Lance Armstrong konzentriert; der ruhige, fast gemächliche Tritt in die Pedale; die atemlosen Verzückungs- und Verzweiflungsschreie der Reporter; die Nation von Radsportexperten vor der Mattscheibe, die flammenden Elogen in den Medien.

Ein ganzes Land ruft Hosianna: Jan Ullrich ist auferstanden! Und nicht nur das, er steckt mittendrin im Kampf um das gelbe Trikot, ja, um den Gesamtsieg bei der Tour de France. Wo ein Lance ist, da ist meist ein Ullrich, auch wenn der gestern beim Schlussanstieg nach Luz-Ardiden Etappensieger Armstrong nicht folgen konnte, den Zeitverlust aber leidlich in Grenzen hielt und mit 1:07 Minuten Rückstand in der Gesamtwertung noch alle Chancen hat. Vier Jahre lang gehörte die Tour allein Lance Armstrong. In diesem Jahr ist das anders, und der eigentlich schon verlorene Radsportsohn der Deutschen erstrahlt in neuem Glanz. Eine Läuterung von geradezu saulisch-paulischer Rasanz.

Nur etwas mehr als ein Jahr ist es her, da saß ein kleinlauter Jan Ullrich in einem mit Journalisten voll gepfropften Raum. Die Knie kaputt, des Dopings überführt, brummelte er etwas von Reue und davon, dass er kämpfen und zurückkehren wolle. Niemand glaubte ihm. Das Urteil stand fest: Ein früh verbrannter Stern am Sporthimmel; ein Versager, der sein Talent verschleudert hat; ein ewig unreifer Tunichtgut, der schlechten Umgang pflegt, in Discos sumpft, betrunken Auto fährt und sich mit Ecstasy berauscht, statt uns mit radsportlichen Triumphen zu berauschen. Kurzum, ein erledigter Fall.

Von all dem ist heute keine Rede mehr. Stattdessen ersteht allenthalben das Bild eines seriösen Familienvaters und verantwortungsvollen Sportlers, der mit sich und der Welt im Reinen ist, plötzlich charmant zu parlieren versteht und – vor allem – endlich wieder Rad fährt wie eine gesengte Sau. Voilà, der neue Ullrich ist geboren!

Ein hübsches Märchen, zweifellos, mehr allerdings auch nicht. Die aktuelle Überhöhung ist genauso unsinnig wie es die einstige Verdammung war. Niemand krempelt seine Persönlichkeit in so kurzer Zeit komplett um. Kleine, längst überfällige Korrekturen können durch einen tiefen Popularitätssturz, wie ihn Ullrich erfuhr, jedoch gefördert werden, da er Anlass und Gelegenheit zur Selbstreflexion bietet. So hat der 29-Jährige eingesehen, dass er nicht ewig den verdrucksten Teenager früherer Tage abgeben kann, und präsentiert sich deutlich lockerer. Die Trennung vom Team Telekom, das Ausbrechen aus der umsorgenden Umklammerung, die ihm dort jahrelang zuteil wurde, hat ihm ebenso gut getan wie der Umzug in die Schweiz. Obwohl er einen gehörigen Teil seines alten Umfeldes, zum Beispiel Teamchef Rudy Pevenage, mitgenommen hat, ist ihm auch die Zusammenarbeit mit den neuen Mitstreitern bei der Bianchi-Mannschaft hervorragend bekommen – gestandene Radprofis aus diversen Ländern, die seine sportlichen Leistungen respektieren, ihm jedoch in Sachen Kollegialität und Kommunikation eine Menge beibringen können. „Ich bin reifer geworden“, fasst Ullrich seine Entwicklung der letzten Monate zusammen. Zeit wurde es.

Inwieweit der Persönlichkeitsschub ihn auf sportlichem Gebiet vorangebracht hat, ist schwer zu beurteilen. Schließlich war er seit dem Tour-Debüt 1996, als er Zweiter hinter seinem Kapitän Bjarne Riis wurde, stets ein exzellenter Radfahrer. Auf Jahre hinaus würde er die Tour beherrschen, hatten die Experten nach seinem Triumph 1997 sogar vorausgesagt. Und tatsächlich würde Jan Ullrich trotz aller Defizite – gelegentlich lockerer Umgang mit Trainingsdisziplin, winterliche Fettleibigkeit, mangelnde Akribie bei der Tour-Vorbereitung – heute wohl um seinen fünften Toursieg fahren, wäre nicht Lance Armstrong auf der Bildfläche erschienen.

Die Kritik an seinen zweiten Plätzen war oft unfair angesichts der Dominanz des Amerikaners, und auch in diesem Jahr ist die Stärke Ullrichs vor allem die Schwäche Armstrongs gewesen. Vor der Tour betrachtete der Deutsche die Rundfahrt 2003 nach seiner langen Zwangspause durch Sperre und Verletzung vor allem als Aufgalopp für die von 2004. Vielleicht ein Etappensieg, möglichst eine gute Platzierung, dann im nächsten Jahr der Angriff auf Armstrong. Einen gewohnt starken Armstrong, wie er selbstverständlich annahm. Nie hätte er gedacht, dass der viermalige Tour-Gewinner schwächeln könnte, sagte dieser Tage ein erstaunter Jan Ullrich.

Was ihn nicht hindert, die unverhoffte Gelegenheit beim Schopf zu ergreifen – und zwar mit allen Mitteln, die ihm zur Verfügung stehen. Ein bisschen Psychoterror zum Beispiel, wenn er beständig an Armstrongs Seite fährt und ihm ab und zu forschend ins Gesicht schaut. „So was nervt tierisch“, weiß Exprofi Jens Heppner. Erstaunlicherweise hat Ullrich aber auch dort Vorteile, wo bisher Armstrongs größte Stärken lagen: in der Organisation. Während der Amerikaner völlig erhitzt in das Zeitfahren von Gaillac ging und vor Durst fast vom Rad fiel, kam Ullrich absolut cool aus einem klimatisierten Bus an den Start. Seine Krankheit in den Alpen konnte er vor den Rivalen verbergen, während Armstrongs hervorspringende Augäpfel auf der ersten Pyrenäenetappe weithin von seiner Verwundbarkeit kündeten. Falsches Schuhwerk, ein Fahrrad, das schlecht an seine nach einem Sturz vor einigen Wochen veränderte Sitzhaltung angepasst ist, sind weitere Malheure, mit denen Armstrong zu kämpfen hatte. Hinzu kam die Hitze, die der 31-Jährige gar nicht liebt – im Gegensatz zu Ullrich. Die hohen Temperaturen der heißesten Tour seit dreißig Jahren entzogen den Radprofis ungeheuer viel Substanz. Jan Ullrich kommt hier laut Telekom-Doktor Lothar Heinrich eine Eigenschaft zugute, die ihm sonst eher negativ ausgelegt wird: „Er kann viel mehr essen als andere.“ Noch fünf Etappen bis Paris, am Samstag das letzte Zeitfahren: Das große Fressen kann beginnen.