: Berties einzigartiges Erlebnis
Der irische Premier Bertie Ahern hat die erste EU-Verfassung unter Dach und Fach gebracht. Was das genau bedeutet, wird unterschiedlich interpretiert
AUS BRÜSSSELDANIELA WEINGÄRTNER
Es geschieht nicht oft, dass Journalisten nach einer langen Gipfelnacht den Politiker oben auf dem Podium mit Beifall verabschieden. Während draußen schon die mit Stacheldraht bewehrten Absperrungen auf Lastwagen verladen und abtransportiert wurden, während die anderen Regierungschefs zu ihren Limousinen strebten, saß Irlands Premierminister Bertie Ahern lächelnd neben seinem Außenminister und freute sich an diesem kleinen Moment der Anerkennung: „Wir haben die Zeit der EU-Präsidentschaft genossen. Es ist ein Erlebnis, das wir wohl nie wieder haben werden, weil sich nun alles ändert.“
Da lief ein winziger historischer Schauder durch den Pressesaal. Immerhin hatte sich Europa soeben seine erste Verfassung gegeben. Der Gipfelzirkus halbjährlich wechselnder Präsidentschaften wird vielleicht schon in zwei Jahren eine Randnotiz im Geschichtsbuch sein. Ein Franzose, mit dem landestypischen Sinn für Pathos ausgestattet, hatte die neue Präambel gedichtet: „Schöpfend aus den kulturellen, religiösen und humanistischen Überlieferungen Europas …“
Noch mit dem Champagnerglas in der Hand, als die Schlacht endlich geschlagen war, soll der polnische Premier Marek Belka versucht haben, den lieben Gott doch irgendwie hineinzuschummeln in diese laizistische Formulierung, die einige Regierungschefs über Gebühr erregt und beschäftigt hatte in den vergangenen Wochen.
Nach dem verpufften historischen Moment in Kopenhagen, wo zehn neue Mitglieder sang- und klanglos in die Union aufgenommen worden waren, und dem verhuschten Ende des Verfassungsgipfels in der Nacht zum Samstag, wo die meisten Beteiligten sich wie Diebe davongemacht hatten, fragt man sich, ob dieses Europa eigentlich nicht zu feiern versteht. Die Politiker, die doch die mangelnde Begeisterung ihrer Wähler für das großartige Projekt immer beklagen, sind gleichzeitig Weltmeister, wenn es darum geht, symbolträchtige Augenblicke unter Passerelleklauseln und Sperrminoritätsregeln zu verschütten.
In den parallel veranstalteten Abschlusspressekonferenzen für die jeweils nationale Journaille bot sich Gelegenheit zu verstehen, warum das so ist. Wenn die Chefs über das Champagnerfoto hinaus zusammenbleiben würden, um in Reden das Erreichte zu feiern, wenn sie gar – welch kühner Gedanke – in einer gemeinsamen Pressekonferenz die Details ihres Verhandlungsergebnisses erläutern würden, wäre eine Grundvoraussetzung für den Erfolg daheim dahin. Noch funktioniert Europa so, dass fast jeder Regierungschef am Ende zwei Sätze sagen muss: „Wir haben keine Abstriche an unserem Verhandlungsziel machen müssen. Für die Menschen zu Hause wird dieser Beschluss nichts verändern.“
Besonders deutlich wurde diese Botschaft Freitagnacht von Großbritanniens Premier Tony Blair überbracht, für den sofort nach dieser Schlacht die nächste beginnt: Er muss nun in einem Referendum gegen seine Boulevardblätter zu Hause, gegen die zutiefst misstrauischen Tories und gegen die neue UKIP antreten, die den Austritt aus der EU zu ihrem Programm erklärt hat und damit auf Anhieb zwölf Sitze im Europaparlament gewann.
„Wir haben bekommen, was wir brauchen: Wir haben die Charta der Grundrechte verändert und den Stabilitätspakt. Wir haben das britische Veto geschützt: in Steuerfragen, bei der Verteidigung und der Sozialversicherung.“ Mancher Verhandlungsteilnehmer, dem diese Worte später hinterbracht wurden, mag sich fragen, ob er dieselbe Veranstaltung besucht hat wie der britische Premier. Diesen Effekt hat man ja bei Europäischen Räten öfter.
Tatsächlich ist der Zwang zur Einstimmigkeit in sensiblen Bereichen der Innen- und Justizpolitik sowie in allen Grundsatzentscheidungen der Außen- und Verteidigungspolitik geblieben. Das bedeutet im Umkehrschluss, dass ein Land die anderen 24 Regierungen ausbremsen kann. Dass dieses blockierendes Veto immer von britischer Seite kommen muss, steht freilich nicht im neuen Verfassungsvertrag. Und die entscheidenden Bestandteile dieses Pakets hat auch nicht Blair in der Gipfelnacht zusammengeschnürt. Sie wurden schon vom Konvent vor einem Jahr von der Mehrheitsentscheidung ausgenommen, um den Kompromiss für alle Regierungen akzeptabel zu machen.
Nicht ohne Stolz sagt der sozialdemokratische Europaabgeordnete Klaus Hänsch, der im Präsidium des Konvents stets für Kompromisse eintrat: „Das war eine strategische Entscheidung, die aufgegangen ist. Wir haben eine Reihe von Punkten in der Einstimmigkeit gelassen, um dafür zu sorgen, dass unser Entwurf Grundlage für die Beratungen der Regierungskonferenz bleibt.“ Über 90 Prozent der Reformvorschläge, so Hänsch, seien von den Regierungschefs übernommen worden: Es werde einen hauptamtlichen Präsidenten des Europäischen Rats geben, um die Politik besser zu koordinieren. Ein Außenminister werde für mehr Profil in der Außenpolitik sorgen. Schon der nächste Kommissionspräsident werde vom EU-Parlament gewählt. 95 Prozent der EU-Gesetze würden künftig mit qualifizierter Mehrheit im Rat beschlossen und vom Parlament mitentschieden.
Die spöttische Frage vieler Journalisten, ob das neue Verfahren für die qualifizierte Mehrheit denn nun wirklich einfacher sei als das in Nizza beschlossene, wiesen sowohl der deutsche Kanzler als auch sein französischer Busenfreund empört zurück. Präsident Chirac offerierte dem Libération-Journalisten Jean Quatremer einen Rechenschieber, falls ihm die Sache über den Kopf wachsen sollte. Und Gerhard Schröder sagte trotzig: „Natürlich ist das kompliziert. Aber wir wollen aufhören, das als zentrales Problem zu begreifen.“
Allen Unkenrufen zum Trotz haben sich Europas Regierungen in der neuen erweiterten Runde von 25 Staaten einigen können. Dabei ist vielleicht ein bisschen weniger herausgekommen, als im kleineren Kreis zu erreichen gewesen wäre. Doch keiner kann jetzt sagen, er sei an dieser Entscheidung nicht beteiligt gewesen. Großbritanniens Idee von einem Europa der Nationen seien neue Verbündete zugewachsen, sagte Tony Blair am Ende.
Die Anhänger eines föderalistischen Staatenbundes werden das nicht gern hören. Doch die Neulinge bringen eigene historische Erfahrungen mit, die die Gemeinschaft nicht ignorieren kann. Ab 2014, wenn nicht mehr alle Länder einen Kommissar nach Brüssel schicken dürfen, müssen die nicht vertretenen Staaten dennoch über alle Beschlüsse der Kommission auf dem Laufenden gehalten werden, heißt es in einem in letzter Minute eingefügten Verfassungsartikel. Das Bedürfnis nach derartigen Rückversicherungsklauseln zeigt, wie groß die Ängste in den kleineren der neuen Mitgliedsländer sind. Brüssel soll nicht über ihre Köpfe hinwegentscheiden.