: Ein besonderes Interesse für fremde Kulturen
Die slowenische Literaturkritikerin Urska P. Cerne freut sich über die Unbefangenheit einer Stadt mit slawischen Wurzeln
Links: der rote Platz. Rechts: la Tour Eiffel. In der Mitte: das Brandenburger Tor. Es war zum Millenium eine kulturpolitische Entscheidung der Stadtverwaltung, der neuen deutschen Hauptstadt eine brückenähnliche Ost-West-Dialogidentität zu verleihen. In Berlin ist die Geschichte die Herrscherin des Denkens. Stadtrisse, Nähte der deutsch-deutschen Verletzungen, werden in symbolischer Form beibehalten: eine schmale gepflasterte Granitlinie fließt durch die Stadt wie ein paralleler Kreislauf zum Neubebauten, Modernen, Jungschaffenden. All das spiegelt sich in der literarischen Identität der Dünenmetropole wider. Themenkreise mancher AutorInnen – aber das ist wohl kaum berlinspezifisch – haben mit der Verarbeitung der jüngsten deutschen Geschichte zu schaffen.
Der internationale Berlin-Literaturbetrieb schöpft einen Teil seiner Eigenart aus seinem besonderen Interesse für fremde Kulturen. Klaus Wagenbach brachte in den 60er-Jahren die deutsch-deutsche Literatur zum Dialog. Rowohlt Berlin wurde vor Jahren von Michael Naumann gegründet, um anspruchsvolle „osteuropäische“ Literatur in die deutschen Haushalte zu bringen.
Das ist nun leider vorüber. Aber andere Verlage und Einrichtungen befassen sich intensiv mit den neuen „Nachbarn“. Die LiteraturWERKstatt, das Literaturhaus und das Literarische Colloquium Berlin haben oft Programmschwerpunkte in den Osten gelegt und das machen sie auch weiterhin. Verschiedene politische und kulturelle Stiftungen, die den Ost-West- und Nord-Süd-Dialog stärken, sind in Berlin ansässig.
Berlin allein ist ja eine Ost-West-Stadt, eine zum Teil aus slawischen Wurzeln entstandene „Berl“-Stadt jenseits des römischen Einflusses. Die Stadt ist mit wenigen zeitbedingten Ausnahmen immer ausländerfreundlich und unbefangen gewesen. So auch ihre Literatur. Aber wir wissen alle, welch pauschalisierende Vereinfachungen das sind, wenn wir hier eine „Stadt“ und eine „Literatur“ ausspinnen.
Ein paar nebenbei aufgefangene Betrachtungen zusammenfegen und Schlüsse ziehen. Wie viele literarische Kunstwerke sollte man gelesen haben, die in Berlin geschrieben worden sind, um überhaupt darüber sprechen zu können? Weiß man denn überhaupt, ob ein Berliner Autor, der bei einem Berliner Verlag ein Werk herausgibt, den Text nicht vielleicht in Stuttgart, Rom, New York oder Schöppingen geschrieben hat? Gut, es gibt die Berliner Lebenswelten, die in einem Werk zum Vorschein kommen. Aber sind sie wirklich so spezifisch? Es hört sich widersprüchlich an, aber ich denke, ja. Berlin hat 3,5 Millionen Einwohner, Slowenisch sprechen nicht mehr als zwei Millionen Seelen. Und um es mit den anderen deutschen Großstädten zu vergleichen, bräuchte ich mehr Wissen über diese Städte.
Die zweite Eigenschaft der literarischen Produktion und des Literaturbetriebs in Berlin, die mit oben erwähnten Überlegungen verknüpft ist, hat mit der neuen innerdeutschen und internationalen Anziehungskraft Berlins zu tun. Eine heute vielleicht schon überlebte Erwartung des großen Berlinromans, des großen Wenderomans, wurde von den jungen Wahlberlinern ergänzt, die als literarischer Nachwuchs ihre Bücher plötzlich in großen Auflagen verkauft haben, die für die Poesie eine populäre Darstellungsart gefunden haben. Ich glaube, in den literarischen Fachkreisen Berlins ist man mittlerweile gegenüber diesen Erscheinungen skeptisch genug geworden.
Aber: bislang bewegten wir uns immer noch an der Oberfläche des Themas. Landschaften, Städte und andere Toponyme leben bei bestimmten Autoren auch nur in deren Innerem. Herta Müller lebt physisch in Berlin und schreibt nicht über Berlin. Jeffrey Eugenides, Bei Dao auch.
Das Einzige, wovon ich überzeugt bin, ist zeitgeschichtlich zu betrachten: Wenn ich eine deutsche Stadt als Literaturhauptstadt nennen sollte, wäre das zuerst Berlin. Es folgten noch München, Frankfurt und Hamburg.
URSKA P. CERNE
Die Autorin ist Literaturkritikerin und Übersetzerin in Ljubljana