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„Wir hoffen auf das Verbandsklagerecht“

Die EU-Richtlinien gegen Diskriminierung werden vom Bund nicht umgesetzt, sagt Kerstin Jerchel von Ver.di

taz: Warum gibt es die Möglichkeit einer gemeinsamen Klage gegen Unternehmer nicht auch in Deutschland?

Kerstin Jerchel: Es gibt eine vergleichbare Konstruktion in den verschiedenen EU-Richtlinien gegen Diskriminierung im Arbeitsleben. Die sind allerdings in Deutschland noch nicht umgesetzt. Die Richtlinien sehen vor, dass Verbände und Organisationen einer Klägerin Rechtsschutz gewähren und für sie die Klage führen können, wenn sie das will.

Wie sind solche Diskriminierungsfälle in Deutschland bisher vor Gericht gekommen?

Die einzelne Person muss hergehen und klagen. Das ist sehr schwierig. Sie ist durch die Ungleichbehandlung ohnehin schon stigmatisiert und wagt oft nicht, allein gegen das Unternehmen vorzugehen. Diese Klagen werden immer seltener, je schlechter die Situation auf dem Arbeitsmarkt wird. Viele sind ja froh, überhaupt noch einen Job zu haben.

Gibt es in Deutschland Fälle von direkter Lohndiskriminierung, wie es jetzt bei Wal-Mart beklagt wird? Also weniger Lohn für die gleiche Arbeit?

Stärker ist die strukturelle Diskriminierung: Dass immer noch mehr Frauen die Elternzeit nehmen, bedeutet oft, dass sie im Job einfach nicht vorankommen. Aber auch direkte Diskriminierung gibt es sicherlich auch in deutschen Firmen. Doch solche Fälle kommen selten vor Gericht, weil man erst einmal beweisen muss, dass der Mann mehr für die gleiche Arbeit bekommt. Lohnzuschläge werden aber oft versteckt: in Sonderzulagen oder einer Nebenabrede. Das nachzuweisen ist extrem schwierig.

Können die EU-Richtlinien auch an diesen Bedingungen etwas ändern?

Ja, die Antidiskriminierungsrichtlinie sieht eine volle Umkehr der Beweislast vor. Das heißt, die Frau muss nur noch einen „schlüssigen Tatsachenvortrag“ liefern. Und dann muss der Arbeitgeber das Gegenteil beweisen.

Wären im Fall des Erfolgs auch Nachzahlungen für den entgangenen Lohn fällig?

Wenn man den Anspruch fristgerecht geltend gemacht hat, dann ist der entgangene Lohn fällig. Das muss man aber vor Beginn des Verfahrens tun.

Wenn die einzelne Person immer noch für eine Musterklage zur Verfügung stehen muss, ist sie dann nicht immer noch stigmatisiert?

Nein, denn der Verband zieht ja ihren Fall an sich. Es ist also nicht mehr eine Verkäuferin bei Kaufhaus X betroffen, sondern womöglich mehrere. Das Kaufhaus müsste, um sie zu strafen, dann schon alle betroffenen Verkäuferinnen entlassen.

Kämen dann unter Umständen Riesensummen zusammen, weil der Verband für alle Betroffenen klagt?

Je mehr Frauen betroffen sind, desto teurer wird es für das Unternehmen.

Wie groß sind die Chancen, dass dieses Verbandsklagerecht kommt?

Das Recht steht ziemlich eindeutig in der Richtlinie. Nur der entsprechende Gesetzentwurf lässt auf sich warten. Die Bundesrepublik ist nun mit verschiedenen Antidiskriminierungsrichtlinien im Verzug, diese mussten bis Ende 2003 umgesetzt sein. Wir hoffen auf das Verbandsklagerecht.

INTERVIEW: HEIDE OESTREICH

Hinweis: KERSTIN JERCHEL ist Referentin für europäisches und internationales Recht beim Ver.di-Bundesvorstand.

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