: Ein Seuchenvirus namens Wagner
Verliebt ins Kino und in Punk: Der Regisseur Sebastian Baumgarten ist durch seine Operninszenierungen bekannt geworden. Mit dem Theaterstück „Epidemic“, angelehnt an Lars von Trier, will er im HAU 1 eine Geschichte der Ängste erzählen
VON KATRIN BETTINA MÜLLER
Schreckensweit öffnen sich die Augen eines Mannes, verzweifelt verbirgt die Frau ihr Gesicht in den Händen. Grobkörniges Schwarzweiß, Filmbilder in Slow-Motion: Sie bilden den Auftakt des Musiktheaterstücks „Epidemic“, das der Regisseur Sebastian Baumgarten an den gleichnamigen Film von Lars von Trier angelehnt hat. Eine Band steht neben der Projektionsleinwand und spielt. Ihre Finger rasen über die Instrumente, als wäre ein Tonband auf fast forward gestellt. Zwischen diesen gegenläufigen Geschwindigkeiten, zwischen den verzögerten Bildern und dem beschleunigten Klang wird etwas zerrieben und zermalmt. Eine Einheit von Zeit, Raum und Erzählung erwartet danach niemand mehr.
Als Sebastian Baumgarten mit der Arbeit an „Epidemic“ begann, gab es keinen Stücktext, keine durchkomponierte Musik und keine Form. Verliebt zu sein ins Kino und die Lust seiner Crew von Performern an der Bildung von Postpunkbands, das sind die formalen Konstanten, die das Unternehmen rahmen. Spielmaterial war die krude Filmstory und was sich an Assoziationen an ihr andocken ließ: etwa die Dialektik von Aufklärung und Verdrängung, wie Seuchen und Krankheitsbilder zur Metapher für historische Prozesse werden und auf welche Ambivalenzen der Künstler sich einlässt, der mit diesen Bildern spielt. Ein Thema war das Verhältnis zu Wagner, dessen Musik in Lars von Triers Film einen Seuchenvirus transportiert. In diesen mäandernden Bewegungen zwischen einer Handlung, die manchmal nachgespielt und oft nur kursorisch erzählt wird, und dem Einspielen von Reflexionen wie aus dem Zettelkasten eines Filmanalyseseminarteilnehmers entwickelt sich der Abend, manchmal schnell, teils zäh.
Am Anfang geht ein Drehbuch verloren. „Den Anfang habe ich komplett vergessen, das Ende ist dunkel, die Mitte verschwommen“, sagt der eine der beiden Filmemacher, die wir als Figuren auf der Bühne vor uns haben, und das ist eine schöne Vorschau auf die kommenden zwei Stunden. Jede Nacherzählung muss sich unweigerlich im Gestrüpp der Ebenen verheddern, zwischen den Film-im-Film-Storys und dem Film-auf-der-Bühne. Aber das macht wenig. Denn schließlich will Sebastian Baumgarten keine Geschichte erzählen und keine geschlossene Form aufführen, sondern die Wechselwirkungen zwischen Produktionsverhältnissen und der Stoffentwicklung offen legen. Das gelingt am besten in einigen parodistischen Szenen, in denen der Produzent sein Team besucht und erst mit therapeutischen Vertrauensbekundungen, später mit patriarchalem Zynismus unter Druck setzt.
Was Baumgarten anzieht an Lars von Trier, sind die Widersprüche. Auf der einen Seite der Wunsch über die 100-prozentige Kontrolle des Stoffes, auf der anderen Seite der Realismus von Dogma, der den Schein des Spiels mit dem Flackern der Authentizität durchdringt. Mit diesen Brechungen kommen auch die Performer auf die Bühne, immer wieder aus der Rolle ausbrechend und sie kommentierend, bis man merkt, dass das nur wieder eine neue Rolle ist.
Doch mit „Epidemic“ glaubte Baumgarten auch, einen Zugang gefunden zu haben, eine Geschichte der Ängste erzählen zu können, vor allem der historisch bedingten. „Mich haben immer Ängste interessiert, Irrationalismus in einer durch Aufklärung geprägten Welt“, sagt er oder stellt die Frage: „Was ist die archaische Konstante unter dem Ganzen, die mehr Bewegung erzeugt als die Oberfläche?“ So spricht eine Stimme aus dem Off schon gleich anfangs als Motto: „Das nicht Erklärbare macht Angst. Destruktion ist der Nährboden unserer Produktion.“ Später kommen nach einer hypnotischen Gruppensitzung Sätze wie „Der Hauptzweck unserer Kultur ist die Verdrängung des Todes“.
Diese Sätze stehen da wie ein Zitatkasten, der sich mitten auf der Seite einer Zeitung öffnet. Aber wenn längere Passagen schließlich nur noch in solchen Aphorismen zerfransen, wird alle Weisheit zu weißem Rauschen.
Etwas bleibt unbefriedigend an dieser Produktion, und womöglich hängt das damit zusammen, dass Sebastian Baumgarten diesmal der Widerstand einer vorgegebenen Form gefehlt hat. Bekannt geworden ist er vor allem mit seinen Operninszenierungen: „Werther“ an der Deutschen Oper Berlin, „Jenufa“ in Meiningen, „Wozzeck“ an der Semperoper. Auch dorthinein brachte er den Widerspruch zwischen der Hingabe an die schöne Form und dem distanzierten Blick auf das Material, trug also immer jenen Zwiespalt in die Sache hinein, den er in „Epidemic“ zum Ausgangspunkt nahm.
Mit „Epidemic“, einer freien Produktion jenseits der Opernhäuser, die nur mit Mitteln des Hauptstadtkulturfonds realisiert werden konnte, erfüllte er sich den Wunsch, Musiktheater frei von den infrastrukturellen Zwängen der Opernhäuser zu bauen. Er setzt damit die Suche fort, was Musiktheater heute sein könnte, die Sehnsucht, eine Fehlstelle zu besetzen, die er nicht einfach aufgeben will. Doch das Generieren einer eigenen Form, die aus dem Inhalt und nicht aus Gattungstraditionen entwickelt wird, ist in „Epidemic“ noch ein tastender Versuch.
Dennoch gibt es schöne Momente: zum Beispiel, wenn am Ende der Posaunenchor, der mit seinen melancholischen Einsätzen die Spielszenen abwechselnd mit der Band unterbricht, zum ersten Mal hinter der Leinwand hervorkommt und über die Bühne zieht, fast wie eine Art Trauermusik: Die Spieler auf der Bühne sind zuvor hinter der Leinwand und im Film verschwunden, die Filmfiguren wiederum hat die Seuche hinweggerafft. Und so bleibt am Ende nichts als die Musik.
„Epidemic“ im HAU 1, Hebbel-Theater, bis 27. Juni, 19.30 Uhr