Der Riss in der Rezeption

Was soll er sein? Ein liberales Foucaultchen für die Lebenskunst – oder der Funke, an dem sich Kritik der Gegenwart entzündet? 20 Jahre nach seinem Tod toben symbolische Kämpfe um Michel Foucault

Dieser Foucault tut niemandem weh. Schlimmer noch:Er soll helfen!

VON ULRICH BRIELER

Jüngst konnte man in der Zeitschrift Mittelweg lesen: „Suchte das akademisch-intellektuelle Deutschland derzeit seinen Superstar, er hieße wohl Michel Foucault.“ In der Tat. Zwanzig Jahre nach dem Tod Foucaults am 25. Juni 1984 ist seine Präsenz unüberlesbar. Und diese Aussage gilt nicht nur für Deutschland.

Überall, wo man nach der linken Depression der frühen 90er-Jahre den Faden einer materialistischen Kritik der Gegenwart wieder aufgreift, wird Foucault als theoretischer Anspielpartner in Szene gesetzt. So unterschiedliche Autoren wie Michael Hardt und Antonio Negri, Giorgio Agamben und Zygmunt Bauman, John Holloway und Robert Castel profitieren von Foucaults Denkarbeit. Vielleicht wird man eines Tages dem berühmten Schlusskapitel des ersten Bandes der „Geschichte der Sexualität“ eine ähnliche Bedeutung für das Verständnis unserer Gegenwart zuerkennen wie Marx’ Überlegungen zur ursprünglichen Akkumulation oder Webers Skizzen der protestantischen Ethik für ihre Zeit. Heute steht die globale Verfügung über das lebendige Arbeitsvermögen der Gattung auf der Agenda und Foucault war ihr theoretischer Prophet.

Dennoch war die Lektüre Foucaults in Deutschland über lange Jahre von Ablehnung und Randständigkeit gekennzeichnet. Es waren die Nonkonformisten der Szene, die Foucault den Weg bereitet haben, wie etwa die Bochumer Zeitschrift Kulturrevolution. Heute zeigt sich, wie wichtig diese Arbeit im Verborgenen war. Hier wurden theoretische Blicke geschärft, die in den aktuellen Diskussionen um die in die Sinnkrise geratenen Geisteswissenschaften ebenso präsent sind wie in den Auseinandersetzungen um eine neue Kritik der Politik.

Foucault steht auf vielfältige Weise im Zentrum dieser symbolischen Kämpfe. Schlaglichtartig zeigte sich dies auf der ersten großen Foucault-Konferenz in Deutschland im September 2001. Frankfurt, Hometown der Kritischen Theorie, war als Veranstaltungsort nicht ohne Pikanterie. Schließlich wollte Jürgen Habermas noch 1985 in seinem „Philosophischen Diskurs der Moderne“ Foucault als irrationalistischen Vernunftkritiker ins Abseits stellen. Dass Axel Honneth, aktueller Direktor des Instituts für Sozialforschung, als Einlader zeichnete, sprach vom Willen der kritischen Theoretiker, Foucault Einlass in das Pantheon der modernen Sozialphilosophie zu gewähren. Nur dass Honneth Foucault bei aller Sympathie weiterhin bloß die Rolle eines zwar wichtigen, aber eben doch zu unsystematischen und marginalen Stichwortgebers zuteilt. So weit also Business as usual.

Aber exakt diese Zuschreibung bildete den Konfliktstoff der Konferenz. So wenn Nancy Fraser, Politikprofessorin aus New York, Foucault im Spiegel der Globalisierung als einen überholten Theoretiker des Fordismus enttarnte, während ihn Thomas Lemke als hellsichtigen Prognostiker der neoliberalen Menschenführung interpretierte. Oder wenn Judith Butler überraschenderweise Foucault als Theoretiker der Anerkennung pries, während Ulrich Bröckling die panoptische Disziplinierung durch moderne Managementtheorien zur Diskussion stellte. Zwei Richtungen trafen aufeinander: Ist der Meister ein Mann von gestern oder von heute und übermorgen? Erneuert Foucaults Denken eine Kritik an unserer Gegenwart oder steht es für ein Sich-Einrichten in den Verhältnissen?

Ein Jahr nach der Frankfurter Konferenz traf man sich anderen Ortes, um auch über diese Fragen zu streiten. Im Karlsruher Zentrum für Kunst und Medientechnologie war das Thema „Foucault und die Künste“ aufgegeben. Aber was einen Großteil der Vorträge verbindet (wie die Vorträge vom Frankfurter Kongress sind sie mittlerweile in Sammelbänden greifbar), sind weniger die neu entdeckten kunsttheoretischen Facetten des Werkes als vielmehr der theoriepolitische Zugriff. In Karlsruhe entstand ein Klassiker in Form einer Foucault-Philologie. Die altbekannte und Foucault so wenig erbauende Gestalt des endlosen Kommentars hielt Einzug, eine Exegese ohne erkennbaren Bezug zu den Problemen der Gegenwart, die das Denken vorantreiben und seine Einsätze bestimmen.

Am deutlichsten wird diese Verschiebung der Pole Politik versus Ästhetik und Kritik versus Affirmation in den Beiträgen zum späten Foucault der Technologien des Selbst. Im Angebot erscheint hier allen Ernstes das Modell einer Lebensführung für den wohlstandsgebeugten Mittelklässler. Ein bisschen Tai Chi und ökologische Müllentsorgung, ein wenig an die anderen denken und das Elend in der Dritten Welt nicht vergessen, ironisch sein und auch des Todes eingedenk – und fertig ist der Lebenskünstler.

Schon klar: Die Frage nach dem richtigen Leben rückt wieder in das Zentrum des philosophischen Denkens. So weit, so gut. Aber die Vorschläge dieser Lebenskunst à la Foucault unterhalten eine so enge Verbindung mit den altbekannten Scharlatanen des „Du schaffst es!“ und „Sei du selbst!“, dass man getrost von einer Matrix der neoliberalen Menschenführung reden kann. Wo das Ganze mehr sein soll als ein Bodo Schäfer für Anspruchsvollere, ein Slow Food für die neue Mitte, ist schwerlich erkennbar. An keiner Stelle erscheint eine ernst zu nehmende Reflexion über die Realität des so genannten Individualismus.

Die ganze Kümmerlichkeit dieser Ikea-Philosophie sticht krass hervor, konfrontiert man sie mit der ähnlich gelagerten französischen Rezeption Foucaults, wie sie etwa in Michel Onfrays Plädoyer für Widerstand und Lebenslust auftaucht. Onfrays Figur des „Rebellen“ ist von den deutschen Lebenskünstlern weit entfernt. Man meint, Onfray würde seine deutschen Pappenheimer im Blick haben, wenn er „ein kraftloses und moralisierendes Denken angreift, dessen sich Vorstandsdamen von Wohltätigkeitsvereinen, Generalvikare ländlicher Gemeinden oder Unterpräfektengattinnen bedienen, die zwischen Tee und Näharbeit in ihrer bovaresken Langeweile zu ersticken drohen. Die zeitgenössische Ideologie, die in ihrer Rückkehr zum Moralismus bestürzend ist, rechristianisiert die Epoche unter dem Deckmantel eines schwammigen philosophischen Denkens, das auf Zitatcollagen für Abiturienten zusammengeschrumpft ist.“ Besser lässt es sich nicht sagen. Diese deutsche Lebenskunst tut niemandem weh, schlimmer: Sie will helfen.

Man könnte es mit dieser Kehre zu einem liberalen Foucaultchen bewenden lassen, eben eine weitere Lesart. Aber diese Lektüre findet inmitten der Krise der Geisteswissenschaften statt, ja stilisiert sich als eine zeitgemäße Reaktion hierauf. Die Symptome dieser Krise wurden oft genannt: materiell ausgetrocknet, ideell entmündigt, fit gemacht zum Dienstleister der Kulturindustrie und Stichwortgeber eines vergehenden Bildungsbürgertums. Der Mainstream reagiert auf diese Situation mit Mimikry: Nur nicht auffallen! Man will den Menschen verstehen, den Sinn verstehen, das Verstehen verstehen. Alles Pustekuchen. Die Leute verstehen sehr wohl, was läuft. Dazu brauchen sie keine „angestellten Philosophen“, wie schon Adorno wusste. Was sie bräuchten, wäre eine klitzekleine Unterstützung, um den Dingen von unten auf die Sprünge helfen. Das wäre auch dem Impuls der Befreiung dienlich, der in der europäischen Sozial- und Geistesgeschichte stets die bleibenden Leistungen erbracht hat.

Die Kritik im Sinne Foucaults wirkt hier als Gegengift gegen die post-wilhelminischen Politikberater, Kulturmanager, Marktforscher und Zukunftsdeuter, die derzeit wieder zum Throne drängen. Denn die Krise der Geisteswissenschaften ist weniger eine der Kopeken, als eine des Kopfes. Hier kann man auf Foucault zählen, der selbst einer ihrer heftigsten Kritiker war. Auf lange Sicht ist deshalb eine der folgenreichsten Erscheinungen der letzten Jahre, dass sich in den Grenzzonen der Geisteswissenschaften eine Erneuerung ihrer kritischen Aufgabe ereignet hat. Foucault kommt hier von links außen. Axel Honneth spricht zu Recht vom „Untergrund einer Vielzahl informeller Lesezirkel, autonomer Tutorien und randständiger Publikationen“, die Foucault gegen den Mainstream entdeckt haben. Foucault stellte Fragen und warf Probleme auf, die den herrschenden Meinungsmachern völlig abgingen. In der kritischen Pädagogik wie in den Studien zur Gouvernementalität in der Soziologie haben sie einen ersten Niederschlag gefunden.

Die wichtigste Tatsache in diesem Feld ist Foucaults Ankunft in der Geschichtswissenschaft. Diese Entdeckung war überfällig, ohne Geschichte geht bei Foucault schließlich nichts. Der Doppelfalle von Orthodoxie und Anthropologie entgeht er, indem er jede Angst vor der Geschichte nimmt. Inwieweit sich hier ein progressiver Riss auftut, der so aktualitätsgeladene Themen wie die Bio-Politik, die Menschen-Führung im Neoliberalismus oder die Zukunft der Arbeit bearbeitet, bleibt abzuwarten. Skepsis ist geboten, setzt eine derartige Geschichtsarbeit auch institutionelle Möglichkeiten voraus, die nicht umstandslos gegeben sind.

Eher ist das Gegenteil der Fall. Die Prekarisierung geistiger Arbeit hat zur Folge, dass sich ein kritisches Denken jenseits der akademischen Institutionen etabliert. In oft nur Eingeweihten bekannten Zeitschriften meldet sich eine frei schwebende Intelligenz zu Wort, die in Foucault einen theoretischen Gesprächspartner gefunden hat. Diese Allianz ist nicht zufällig. Oftmals in unsicheren Arbeitsverhältnissen zu Hause und in Sorge um die Zukunft der Geisteswissenschaften entfaltete sich hier ein Gespür für die Produktivkraft eines Denkens, das die Stellung am Rande als eine privilegierte Erkenntnisposition feiert.

Das Foucaultchen der deutschen Lebenskunst oder der kritische Foucault – welcher Foucault sich letztlich durchsetzt, könnte ein Fingerzeig für die Entwicklung der Geisteswissenschaften sein. Foucault ist vielleicht der Funke, an dem sich eine Kritik der Gegenwart, die auf der Höhe ihrer Zeit ist, entzündet.