: Ein Denkmalsturz
Brigitte Seebacher hat eine recht eigenwillige Sicht auf Willy Brandt. Dabei neigt sie zu Verschwörungstheorien und Diffamierungen
VON FRANK LÜBBERDING
„Willy sagte später einmal zu mir, dass Wehner und ich an seinem Rücktritt schuld seien. Den genauen Anteil daran wollte er nicht näher erklären ...“ So zitierte Rut Brandt in ihren eindrucksvollen und immer noch lesenswerten Erinnerungen ihren geschiedenen Ehemann, Willy Brandt. 12 Jahre später bemüht sich die Witwe des großen deutschen Sozialdemokraten, Brigitte Seebacher, diese Begründung nachzuliefern. Sie will eine Frage klären: „Was hat Willy Brandt bewegt und erfüllt?“ Um das zu erreichen, mischt sie persönliche Erinnerungen und wissenschaftliche Analyse. Und heraus kommt eine politische Kampfschrift.
Der Autorin geht es keineswegs um die Person Willy Brandts und ihre eigene Rolle in seinem bewegten Leben. Sie kämpft um sein politisches Erbe. Sie zeigt uns ihren Willy Brandt, und der hat mit dem wirklichen Menschen nicht so viel zu tun. Ihr Brandt war vor allem Patriot, reduzierte den Sozialstaat auf die Sicherung des Existenzminimums und war immer an der Seite der USA. Das mag so gewesen sein – in der Erinnerung von Frau Seebacher. Aber kann man Willy Brandt im Ernst auf diese Versatzstücke einer konservativen Agenda reduzieren?
Niemand bezweifelt heute noch seine patriotische Überzeugung. Hat er doch wie kein anderer dieses Land mit sich selbst versöhnt. Aber war das wirklich so ungebrochen, wie es die Witwe auf 376 Seiten formuliert? Sie glättet ein widersprüchliches Leben bis zur Unkenntlichkeit. Selbst die besten Passagen in diesem Buch – Reflexionen über die Kindheit und Jugend Brandts – werden durch die nationale Obsession der Autorin entwertet.
Das könnte man sogar noch akzeptieren. Genauso wie ihr rechtskonservatives politisches Projekt oder den Dank an das politische Irrlicht Klaus Rainer Röhl. Ehepaare müssen nicht immer einer Meinung sein – und Brandt kann sich heute nicht mehr gegen seine Interpreten wehren. Aber das Problem in diesem Buch sind die charakterlichen Defizite, die hier offen formuliert werden. Dieser Willy Brandt war zugleich nachtragend, bisweilen kleinkariert und besessen von einer fixen Idee namens Herbert Wehner. Die Witwe stößt in ihrem ideologischen Furor das Denkmal Brandt vom Sockel.
Bisher hat man Brandt manches durchgehen lassen. Etwa sein indiskutables Verhalten gegenüber seiner geschiedenen Frau Rut oder seine Ignoranz gegenüber den eigentlichen Gründen für seinen Sturz 1974. Er war halt so. Angesichts seiner Verdienste sieht man über manches hinweg. Aber die Witwe löst die Widersprüche eines komplizierten und zugleich faszinierenden Menschen auf. Sie ist auf Eindeutigkeit versessen. Ganz anders als Willy Brandt selbst. Sein Charisma hat in nicht geringem Maße aus seiner Fähigkeit zur Mehrdeutigkeit bestanden. Aus seiner Offenheit für neue Entwicklungen. Erst so konnte er für viele höchst unterschiedliche Menschen zur Projektionsfläche recht konträrer Erwartungen werden. Das war seine Stärke.
Doch im Hause Seebacher-Brandt wird wohl anders geredet worden sein. Wehner habe auf „zwei Schultern getragen“ – sprich wäre ein sowjetischer Einflussagent gewesen. Was Brandt vielleicht manchmal dachte und auch formulierte, wird bei Frau Seebacher zur Gewissheit. Zwar findet sie keine Belege für diese Behauptung. Nur ominöse Titel von Dokumenten aus russischen Archiven. Gesehen hat sie die Beweise nicht. Aber wen stören schon solche Kleinigkeiten? Schließlich hat Brandt Wehner zu Recht für seinen Sturz verantwortlich gemacht.
Nur: Ohne Wehner wäre es 1976 der Wähler gewesen. Das wollte Brandt offensichtlich bis zu seinem Lebensende nicht akzeptieren. Frau Seebacher spricht das aus. Aber spricht das für Brandt? Wehner gerät bei ihr zur Karikatur. Wen wundert’s. Begreift sie doch noch nicht einmal die Widersprüche ihres Ehemannes. Überhaupt nimmt sie offenbar jedes Gerede des ehemaligen Bundeskanzlers für bare Münze.
Was soll die Wiedergabe mancher Bemerkungen Brandts über Parteifreunde wie etwa Hans Jochen Vogel? Brandt äußerte sich offensichtlich despektierlich im Gespräch mit Helmut Kohl über seinen Nachfolger im Amt des Parteivorsitzenden. Vogel wird es verschmerzen. Aber ist Brandts Wertschätzung für Kohl größer gewesen als die für Vogel? Kaum zu glauben. In diesem Buch muss man diesen Eindruck haben. Aber Frau Seebacher referiert hier wohl mehr ihrer Meinung als die ihres verstorbenen Mannes. Ihre konservativen Ansichten kann sie gerne haben. Nur sollte sie sich nicht auf Willy Brandt berufen, sondern auf die eigene Autorität. So weit sie eine hat.
Wenig überraschend sind daher auch die Bemerkungen der Autorin über Rut Brandt. Sie beschreibt den Zustand dieser Ehe unmittelbar nach dem Krieg – natürlich nicht aus eigenem Erleben. Wie auch? Also aus Erzählungen. Gefiltert durch die eigenen Urteile: „… im Gegensatz zu späteren Beziehungen hatte Rut Brandt keinen eigenen Beruf und stand auf keinem eigenen Fuß. Die Ansprüche aber waren hoch, jedenfalls überstiegen sie die Gegebenheiten. W. B. [Willy Brandt] ließ es geschehen, wie er vieles geschehen ließ, was ins Persönliche ging und eine Auseinandersetzung unter vier Augen erfordert hätte. Fürsorglichkeit hätte sich ohnehin nicht verordnen lassen.“ Daran hatte sich wohl bis zuletzt nichts geändert, wenn man von der Fürsorglichkeit à la Seebacher einmal absieht.
Willy Brandt ist sich treu geblieben. Nur seine Frauen haben sich geändert. Wer den Unterschied kennen lernen will, sollte deren Bücher lesen. Der Unterschied zwischen Rut und Brigitte ist der zwischen Charakter und Charakterlosigkeit. In der Hinsicht hat Brigitte Seebacher ein wichtiges Buch geschrieben.
Brigitte Seebacher: „Willy Brandt“. Piper Verlag, München 2004, 456 Seiten, 22,90 Euro