: Selbstgespräch im Spiegelkäfig
Leise Musiker in einer lauten Stadt: Unter widrigen Bedingungen lebt in Kairo die unabhängige Musikszene allmählich auf. Dabei kommt ihr zugute, dass im Zuge der politischen Entwicklung im Westen das Interesse an arabischer Kultur gestiegen ist
von THOMAS BURKHALTER
Brauchen die über 16 Millionen Einwohner Kairos überhaupt Musik? Wer die Augen schließt, kurz ausblendet, wie der Smog die Häuser der anderen Flussseite verschlingt, hört das Strömen des Wassers nicht. Auf dem Nil stören Schnellboote die Zweisamkeit der Verliebten auf ihren gemieteten Feluken. Autos fahren an, hupen, bremsen. Muezzins rufen zum Gebet, Männer und Frauen diskutieren und lachen, TV-Geräusche mischen sich in die Kakophonie. Und manchmal kräht ein Hahn. Für Musik scheint kein Platz.
Während des Irakkriegs im April hatte das Ministerium für Kultur denn auch sämtliche offiziellen kulturellen Aktivitäten des Landes eingestellt: Wenn in Irak Menschen sterben, sollen Ägypter nicht feiern, lautete die offizielle Begründung. In Wahrheit fürchtete sich das Regime von Präsident Hosni Mubarak wohl vor allem vor größeren Menschenansammlungen. Schließlich hatten sich mit dem Kriegsausbruch in Kairo die ersten spontanen Großdemonstrationen seit Jahrzehnten in gewalttätigen Ausschreitungen entladen. Tom Hartwell, ein Fotograf aus den USA, der seit über zwanzig Jahren in der ägyptischen Hauptstadt lebt, winkt ab: „Die westlichen Medien haben diese Ausschreitungen aufgebauscht und sogar von einem nahenden Staatsstreich gesprochen. In Ägypten bewegt sich alles aber nur ganz, ganz langsam.“
Seit der sozialistischen Ära Nassers Ende der Fünfzigerjahre wird das gesamte Kulturleben mehr oder weniger vom Staat kontrolliert. In den Sechzigerjahren hatte fast jeder Intellektuelle mindestens zwei Jahre im Gefängnis verbracht, um danach in hohe Staatspositionen berufen und damit mundtot gemacht zu werden. In den Achtzigerjahren, unter Sadat, besserten sich die Bedingungen für Künstler ein wenig. Die Zensur jedoch blieb bestehen, und jegliche Opposition wurde weiter unterdrückt.
Mit dem Aufkommen des Islamismus erweiterte sich der Kreis der Tabuthemen: der Präsident und seine Familie, die Religion, die Sexualität. Und doch: Gerade in den letzten Jahren konnte sich in Ägypten eine freie Kulturszene entwickeln, die sich musikalisch heute in drei Strömungen unterteilt: die offizielle Musikkultur an Konservatorien und im Opernhaus; die private kommerzielle Popmusikindustrie und die unabhängige Musikszene. Gerade sie könnte Nährboden für neue musikalische Entwicklungen sein und wird gerade deshalb von den Kulturfunktionären am meisten gefürchtet.
Der etwas schläfrig in die Welt blickende Mahmoud Rifat verkörpert nicht gerade das Bild eines Umstürzlers. Mit seinen Aufnahmen ägyptischer Alltagsgeräusche stellt er seine Heimat ungefiltert und ungeschönt dar. An seinem Computer setzt er die Klänge neu zusammen und formt neue Hörbilder. Rifat arbeitet in den Bereichen Videokunst und Tanz. Früher ist er auch als Schlagzeuger aufgetreten, heute schwärmt er von diesen Zeiten.
Vor acht Jahren noch habe die alternative Musikszene in Kairo floriert: „Wir spielten in Bars, auf Schiffen, ja sogar Open Air. Wir kleideten uns wild und schmierten uns Make-up ins Gesicht. Die Regierung bekam Angst, als die Bewegung größer wurde und sie sah, dass Drogen im Spiel waren. Mindestens fünfzig Sängerinnen und Musiker wurden verhaftet. Das war der Tod unserer Musikszene.“ Über 80 Prozent der Musiker von damals hätten ihre Instrumente an den Nagel gehängt, so Rifat. Und keiner wage sich mehr, Konzerte zu veranstalten. „Von diesem Schock haben wir uns nicht erholt.“
Anderswo in Kairo aber lebt die unabhängige Musikszene wieder auf. Die palästinensische Sängerin und Oud-Spielerin Kamilya Jubran, die französische Kontrabassistin Sarah Murcia und die beiden Schweizer Werner Hasler und Michael Spahr treten auf Einladung der Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia im unabhängigen Kulturzentrum „Townhouse“ auf – das offizielle Kairo hat ihren geplanten Auftritt im legendären Beit-Harrawi-Theater nicht genehmigt. Die Aufführung stößt auf große Begeisterung, denn Jubrans neue Art, Einflüsse ägyptischer Musikerlegenden wie Umm Kulthum, Mohammed Abdel Wahab und Sayyid Darwish umzusetzen, regt zu Diskussionen an.
Vor allem für die hiesigen Musiker sei es wichtig zu sehen, dass eine Musik modern, in Konzeption und Gestaltung arabisch und zugleich von höchster Qualität sein könne, schwärmt der Musiker Fathy Salama und berichtet über die Schwierigkeiten der nichtkommerziellen, nichtstaatlichen Szene: „Es gibt für uns bloß zwei Auftrittslokale in der Stadt, den ‚Cairo Jazz Club‘ und das ‚After Eight‘. So spielen wir für miese Gagen in Luxushotels, oder wir begleiten in den zwielichtigen Kabaretts von Gizeh Bauchtänzerinnen.“ Salama hat vor kurzem ein Label für neue, nichtkommerzielle Musik gegründet – wahrscheinlich das einzige dieser Art in Ägypten überhaupt.
Ein Jahr lang hat er Anträge an das Kulturministerium und den Staatssicherheitsdienst hin und her geschickt, um am Ende 10.000 ägyptische Pfund – rund 2.500 Euro – zu bezahlen: „Jetzt besitze ich die Lizenz zur Produktion und zum Vertrieb von CDs. Die Hauptfrage aber bleibt: Wie bringe ich meine Produkte an die Kunden?“ Denn Fernsehen und Radio senden in Ägypten fast ausschließlich die kommerzielle Popmusik aus Kairo oder Beirut. Dominiert wird der Musikmarkt vom Tonträgergiganten „Founoon“, der seine Produkte in die gesamte Welt vertreibt und in Ägypten fast ausschließlich auf heimische Superstars wie den Schönling Amr Diab oder die Sängerin Samira Said setzt.
Frédéric Giaccardo, der französische Leiter des Unternehmens, sieht zwar ein, dass Alternativestile nötig wären, um den Mainstream immer wieder mit neuen Elementen aufzufrischen; er könne aber nichts hierfür unternehmen, denn: Die Produkte, die in Ägypten verkauft werden, müssen gleich am Veröffentlichungstag einen enormen Absatz erzielen. „Ab dem zweiten Tag ist unser Profit gleich null, weil in allen Kassettenläden nur noch Raubkopien stehen. Bevor wir die Piraterie nicht ausgerottet haben, werden wir keine alternativen Musikstile in unseren Katalog aufnehmen können.“
In Kairo einen Kassetten- oder gar einen CD-Laden zu finden, ist tatsächlich gar nicht so einfach. Musiker und Musik haben keinen großen Stellenwert in dieser Stadt, dies versichern alle, die hier von ihrer Musik zu leben versuchen: Sei es der Schweizer Kairobesucher Thomas Jeker, der Saidi-Musiker Mostafa Rezk, der senegalische Trommler Modou und George Kazazian, ein Armenier, oder der zeitgenössische Komponist Khaled Shoukri.
Dabei zeigt das CD-Gestell eines Ladens auf der zentralen Nilinsel Zamalek, dem Stadtteil der Schönen und Reichen, dass dies einmal anders war. Die Legenden des letzten Jahrhunderts wie Umm Kulthum oder Abdel Wahab stehen dort aufgereiht neben den vielen arabischen Popsternchen von heute. Nur auf einer einzigen CD lächelt ausnahmsweise einmal kein hübsches Stargesicht dem potenziellen Käufer entgegen: „Shabaka“, die Kartonhülle, zeigt vielmehr einen computeranimierten Feuerwall. Auf der CD werden TV- Ansprachen mit elektronischen Klängen und Beats gemixt, ziemlich avantgardistisch. Per E-Mail ist der Kontakt zu Omar Karim Kamel, dem Herausgeber, schnell hergestellt.
Wie der Multimedia-Künstler kurze Zeit später die Türe zu seinem Apartment auf der Insel Zamalek öffnet, springt ein Riesenvieh von einem Hund – wahrscheinlich der einzige in Kairo – an einem hoch. Das Zimmer ist verdunkelt. Im Fernseher läuft BBC World, Computer eins ist auf ein Chat-Forum eingeloggt, Computer zwei zeigt Nachrichtenbilder.
Neben seinen vielen Aktivitäten bleibe ihm aber immer noch ein wenig Zeit, an einem Internetportal für unabhängige ägyptische KünstlerInnen (www.egyptartlink.com) zu basteln. Zu seiner kürzlich veröffentlichten CD sagt er im breitesten amerikanischen Akzent: „Sie ist von A bis Z auf dem Computer produziert. Und nur weil keine Produktionskosten mehr zu bezahlen waren, wurde sie von einem Label in den Katalog aufgenommen. Ich bin wahrscheinlich der erste Musiker Kairos überhaupt, der diesen Weg geht.“
Im „Cairo Jazz Club“ spielt an diesem Abend, wie jede Woche, derweil die Gruppe West El Balad („Stadtzentrum“), die als hoffnungsvollste alternative Popband Kairos gehandelt wird. Die hier versammelte Wohlstandsjugend trägt Markenkleidung und kann sich das teure Bier leisten. Diese Jeunesse dorée scheint sie nicht zu stören, dass die zehn Mann von West El Balad ihre Popsongs kaum arrangiert, unpräzise und oft in Überlänge darbieten. Ein Journalist jedoch ärgert sich: „Die Musiker in Kairo sind einfach nicht kritikfähig. Alle sind nett und höflich miteinander, aber die künstlerische Qualität geht damit baden. Zudem gibt es Musikkritiken in Ägypten höchstens in den gehobenen französisch- und englischsprachigen Zeitungen.“
Grund zur Hoffnung besteht aber trotzdem. Im Westen ist das Interesse an neuer arabischer Kultur parallel mit den politischen Entwicklungen seit dem 11. September 2001 gestiegen. Das Festival „DisOrientation“ zum Beispiel lud im Frühjahr zahlreiche unabhängige KünstlerInnen aus der arabischen Welt ins Haus der Kulturen in Berlin. Und internationale Institutionen, allen voran die holländische Botschaft, die Ford Foundation und die Pro Helvetia, setzen sich vor Ort für die unabhängigen Szenen ein. So hat sich etwa die holländische Botschaft beim Bau des „Townhouse“ und der Jesuitenzentren in Alexandria und Minja beteiligt und damit mitgeholfen, neue Auftrittsorte für alternative Künstlerinnen und Künstler zu schaffen.
Kritik erntet die Förderungspolitik der ausländischen Kulturorganisationen, vom Goethe-Institut bis zum British Council, trotzdem zuweilen: Sie arbeiteten immer mit denselben Künstlern, sie spürten zu selten neue Talente auf, und sie operierten allein nach Kriterien, die in ihrem jeweiligen Heimatland ausgearbeitet würden.
„Klagen nützen nichts“, meint dagegen der Oud-Spieler George Kazazian: „Entweder, man ist Musiker, auch unter widrigen Bedingungen, oder man lässt es sein.“ Und auch der Performance-Künstler Hassan Khan mag nichts mehr hören: nichts vom Lärm der Stadt, nichts von seinen Künstlerkollegen. Seit vierzehn Tagen sitzt er für je vier Stunden in einem schalldichten Spiegelkäfig, betrinkt sich mit Bier und gibt seine Erfahrungen an der American University zum besten. Spätestens nach drei Stunden ist er Abend für Abend fix und fertig. Er flucht: „Wie bin ich bloss auf diese stupide Idee gekommen?!“ Und wie er aus dem Spiegelkäfig rauskommt, weint er.