: Sieben Tropfen Öl auf 50 Kilometer
Zweimal in der Woche rattert die hundert Jahre alte Hedschas-Bahn von Amman nach Damaskus. Die 1.308 Kilometer lange Verbindung zwischen Damaskus und Medina – einst das Prestigeobjekt des osmanischen Sultans Abdulhamid II. – ist heute eine nostalgische Bummelbahn
VON FLORIAN HARMS
„Selbstmord! Das ist Selbstmord!“, hatte unser jordanischer Freund gesagt. Von stundenlanger Quälerei hatte er gesprochen und davon, dass man hinterher seine Knochen einzeln zählen könne. Doch spätestens als wir die daumengroßen Pappstreifen mit dem Aufdruck „Jordan Railways: 1. Klasse“ in den Händen hielten, war es zu spät, um kehrtzumachen.
Im Stadtzentrum von Amman ist ein Bahnhof versteckt, von dem zweimal in der Woche die Hedschas-Eisenbahn abfährt. Es ist halb acht in der Früh, die Morgensonne taucht Bahnhof und Waggons in goldenes Licht. Aus dem Licht tritt ein Männlein. Salih Schischtawi ist gerade mal 77 Jahre alt. „Das ist doch gar nichts. Ich habe noch viel vor und fühl mich wie 60“, versichert er. An seinem schmalen, 1,50 Meter kurzen und buckligen Körper schlottert ein grüner Kittel. Den Schraubenschlüssel in der Linken, das Ölkännchen in der Rechten, werkelt Salih seit 25 Jahren als Zugmechaniker an der Hedschas-Bahn herum. Er ist der letzte, der noch die Technik der alten Waggons beherrscht. Vor allem die anfälligen Bremsen sind ein Geheimnis. „Die brauchen exakt sieben Tropfen Öl auf 50 Kilometer“, erklärt Salih. Ohne sein Wissen würden sich die Räder der Bahn schon lange nicht mehr drehen. „Gott sei dank bin ich noch jung und kräftig und kann meine Arbeit verrichten“, krächzt Salih. Liebevoll säubert er mit seinem Ärmel das Schild auf einem Waggon: „Firma Arnold Jung in Jungenthal bei Kirchen, Baujahr 1908“.
Es war viel mehr als ein nationales Prestigeprojekt. Als der osmanische Sultan Abdulhamid II. im Jahr 1900 den Plan zum Bau einer Eisenbahnlinie von Damaskus nach Mekka verkündete, horchte die ganze Welt auf. Das Osmanische Reich war längst zu einer Marionette der europäischen Mächte zurechtgestutzt worden, zudem machte dem Sultan aufkommender Nationalismus in seinem Vielvölkerstaat zu schaffen. Mit dem Bau der Hedschas-Bahn, die nach der Region um Mekka benannt wurde, hoffte der „kranke Mann am Bosporus“ seine muslimischen Untertanen hinter sich zu vereinen: Offiziell sollte die Bahn vor allem Pilger nach Mekka bringen. Doch aller Welt war klar, dass sich mit diesem modernen Verkehrsmittel auch rasch große Truppenkontingente verschieben ließen. In der aufgeheizten Stimmung Anfang des 20. Jahrhunderts konnte man das schon als Säbelrasseln deuten.
Mit Geld aus Deutschland, Ägypten, Persien und von muslimischen Spendern aus aller Welt ließ der Sultan 5.000 Soldaten unter Anleitung des Leipziger Ingenieurs Heinrich August Meissner eine eingleisige Schmalspurbahn über Äcker und Wüstensand verlegen. Die Osmanen feierten den Triumph der Moderne. 1903 – Die Hedschas-Bahn erreicht Amman! 1908 – Strecke bis Medina fertig gestellt! Nur 300 Kilometer hätten bis Mekka gefehlt, als der Sultan gestürzt und der Bau der Bahn abgebrochen wurde. Doch die 1.308 Kilometer lange Verbindung zwischen Damaskus und Medina war ein voller Erfolg. Zwischen 1908 und 1914 rollten dreimal wöchentlich proppenvolle Züge hin und her. Im Jahr 1912 wurden fast 50.000 Passagiere gezählt.
Heute sind es sechs Fahrgäste. Und der Zug ist kürzer als damals: Vorne eine amerikanische Diesellok aus den Siebzigern, in der Mitte zwei der im Jahr 1900 zusammengeschraubten Personenwagen und hinten einige Transportwaggons. „Sakr al-Bab! – Türen schließen!“, ruft Salih, dann zuckelt der Veteran aus verwittertem Holz und rostigem Stahl los. 200 Kilometer bis Damaskus liegen vor uns. Mit dem Sammeltaxi würde die Fahrt knapp drei Stunden dauern. Die Hedschas-Bahn braucht neun Stunden. Im Großraumwagen riecht es nach Öl, Staub und Ziegen. Wir hebeln die hölzernen Schiebefenster auf und machen es uns auf den klapprigen, aber gepolsterten Sitzbänken so bequem wie möglich.
Die Lok keucht und faucht, während sie die zappelnden Waggons über die wackligen Gleise zerrt mit einem Spitzentempo von 50 Stundenkilometern. Das Gerüttel hält einen Bauern nicht davon ab, sich auf einer Bank auszustrecken, den Kopf auf seine mit Waren prall gestopften Plastiktüten zu betten und ein Nickerchen zu halten. Weiter vorne hat es sich eine Mutter mit zwei Töchtern bequem gemacht.
Auf der Fahrt aus Amman hinaus quert der Zug mehrere Straßen. Zwar gibt es Schranken, doch wäre es viel zu aufwändig, sie zu schließen. Der Zug kommt ja nur zweimal die Woche. Also verlegt sich der Zugführer aufs Dauerhupen, bis auch der letzte Passant von den Gleisen hüpft. Meter für Meter schnaubt das Ungeheuer voran. Einmal zuckelt es mitten durch einen Markt. Zwischen Waggons und Wassermelonen passt gerade noch eine Handbreit. Aus den Fenstern einer Schule beugen sich Kinder und winken. Dann werden die Häuser von Tomatenfeldern abgelöst. In einem Tunnel ist es stockdunkel, das Rattern hallt hundertfach. „Es hat auf der Strecke noch nie einen Unfall gegeben“, kräht Salih, dann hangelt er sich zum nächsten Wagen, um mit seinem Schraubenschlüssel auf die Zugkupplung zu klopfen. „Aha, da fehlt Öl!“ – schon zückt er sein Kännchen. Bei dieser Kombination aus Schneckentempo und Höllenlärm wird es zunehmend schwieriger, das Raum- und Zeitgefühl zu bewahren. Die Gedanken schweifen zurück ins Jahr 1916.
Natürlich waren die Briten und Franzosen vom Zug des Sultans alles andere als begeistert. Schon längst hatten sie ihre Hand nach dem Vorderen Orient ausgestreckt; da passte es nicht, dass dort nun ein modernes Transportmittel für Menschen und Soldaten umherfuhr. Mithilfe ihres Agenten T. E. Lawrence, der später den Beinamen „von Arabien“ bekam, initiierten die Briten 1916 einen arabischen Aufstand gegen die Osmanen. Innerhalb von vier Monaten sprengten Lawrence und seine Leute 80 Brücken und 17 Lokomotiven und unterbrachen so die Nachschubwege der Osmanen.
Düüüdelidüüü!, macht das Handy des Reisenden neben uns, und wir sind schlagartig zurück im Heute. Der Mann, der nun gegen das Kreischen des Zuges in sein Handy anschreit, heißt Chalid und hat sein Reisegepäck auf ein paar Plastiktütchen beschränkt. Er fährt zum ersten Mal mit der Hedschas-Bahn. „Wisst ihr, wenn man mit dem Auto aus Amman rausfährt, steht man oft lange in der Hitze im Stau. Da dachte ich mir, ich probier es mal mit der Bahn“, erzählt er, und verteilt Fruchtbonbons aus seiner Tüte. Als Kühlschrank-Vertreter muss er viel reisen und hat was gegen Hitze. Chalid winkt einem Hirten zu, der zwischen Olivenhainen seine Schafe weidet. Das Land ist fruchtbar hier, schon vor 2.000 Jahren diente es dem Römischen Reich als Kornkammer. „Es ist ein wunderbares Land, aber weil es so wunderbar ist, gibt es immer Streit darum“, weiß Salih. Er wurde in Jerusalem geboren und musste während des ersten arabisch-israelischen Krieges 1948 nach Jordanien fliehen. Das Geratter wird plötzlich vom Quietschen der Bremsen unterbrochen. Der Zug bleibt stehen.
Alle Fahrgäste springen zu den Fenstern. Was ist los? Ein Unfall? Meilenweit keine Straße und kein Haus zu sehen. Da steht ein Mann neben den Gleisen. Der Zugführer lehnt sich aus seinem Führerstand und drückt dem erschöpften Wanderer ein Glas Tee in die Hand: „Trink ein Schlückchen, das stärkt dich!“ – „Hab Dank, Gott segne dich!“ – „Gern geschehen. Wiedersehen!“ Der Zugführer blickt nach hinten, Salih träufelt noch schnell einige Tropfen Öl in die Bremskästen. „Alles in Ordnung?“, ruft der Zugführer. „Alles klaaaar!“, kräht Salih – und weiter geht’s. Später hält der Zugführer noch zweimal auf freier Strecke: Einmal übergibt er zwei neben den Gleisen wartenden Männern ihre Post. Ein andermal verlassen die Fahrgäste den Zug, um geschwind in einem Schuppen das Nachmittagsgebet zu verrichten.
Nach viereinhalb Stunden passieren wir die Grenze zu Syrien. In der Ferne sind hunderte türkischer Lastwagen zu sehen, die sich auf dem Weg in die Golfstaaten am Zoll stauen. „Ha, da sind wir schneller!“, freut sich Salih. Dann sagt er uns Lebewohl, denn er ist nur für die jordanische Seite zuständig. „Schaut euch den Hedschas-Bahnhof in Damaskus an!“, befiehlt er noch, dann schleicht er mit seinem Ölkännchen von dannen. Nach einer Dreiviertelstunde Aufenthalt steigen wir um in den syrischen Zug, der noch staubiger, klappriger und lauter ist. Eine Bäuerin mit zwanzig Taschen und gefälschtem Gucci-Kopftuch sitzt mit im Abteil. Hier macht der Zug nur 15 bis 30 Stundenkilometer und ruckelt so heftig, dass umfällt, wer sich nicht festhält. Meter für Meter kämpft sich die Lok voran, röhrt und brüllt. Wir sind erleichtert, als wir nach neun Stunden die Vororte von Damaskus erreichen. Winkende Kinder rennen neben dem tobenden Ungeheuer her.
Leider kommen Zugreisende heute nicht mehr im alten Bahnhof im Zentrum von Damaskus an, sondern im Süden der Stadt. Also klopfen wir den Staub von Kleidern und Gepäck, zählen unsere Knochen und fahren mit dem Taxi zum Hedschas-Bahnhof. Majestätisch thront das neoklassizistische Gebäude am Rand eines Platzes. Im Büro des Direktors erfahren wir, dass eine saudische Firma derzeit für 54 Millionen Dollar einen modernen Bahnhofskomplex mit Geschäften und Hotels hinter dem alten Gebäude baut. Die historische Schalterhalle mit der bemalten Holzdecke und den bunten Fensterscheiben soll in den Neubau integriert werden. Geopfert werden soll dem Projekt das legendäre Hedschas-Café. Wir setzen uns dort an die Holztischchen, bestellen Kaffee. Und dann rufen wir unseren jordanischen Freund an. Wir müssen ihm doch sagen, dass wir noch leben.