Rückkehr des Universalismus

Die Dominanz der Neokonservativen in den USA hatte schlimme Folgen für die Welt – dennoch könnte es unangenehm werden, wenn sie ihren Einfluss jetzt völlig verlieren

Mit Krieg kann man die Netze der Radikalen treffen, den Radikalismus selbst wird man eher schüren

Nachdem sich die Staubwolke über den Trümmern World Trade Center wieder gesenkt hatte, da standen sie plötzlich im Rampenlicht – die amerikanischen Neokonservativen und die lose mit ihnen verbündeten liberalen Falken. Beide einte, dass sie der realpolitischen amerikanischen Tradition, mit Potentaten zu paktieren, ein Ende setzen wollten: Demokratie und Freiheit sollten verbreitet werden, und zwar vorzugsweise mit Hilfe der Feuerkraft der US-Streitkräfte. Nur die Ausbreitung der Demokratie könne den irrationalen Hass eindämmen – das war ihre Lehre aus dem 11. September.

Ein Irakabenteuer und ein paar kollaterale Nebenfolgen später sieht es gar nicht mehr gut aus mit den Neokonservativen. Alt- und Paläokonservative in den USA, denen das weltrevolutionäre Erweckungspathos der neukonservativen Umstürzler von Beginn an ein Dorn im Auge war, fühlen sich gestärkt, europäische Kriegsskeptiker sehen sich in ihrer Haltung bestätigt, und die linksliberalen amerikanischen Falken, die sich etwa in der Redaktionsstube des Intellektuellenmagazins The New Republic versammelt und seinerzeit für den Irakkrieg getrommelt hatten.

Nun fragen sie in einer spektakulären Sondernummer: „Lagen wir falsch?“ Alle jene Kräfte, „die wir eigentlich unterminieren wollten, unterminieren jetzt stattdessen unsere Anstrengungen, liberale Institutionen aufzubauen“, konstatieren die Blattmacher deprimiert.

Es sieht nach Backlash aus, das Pendel schlägt wieder zurück. Langsam ist es angebracht, zu fragen, ob das nicht seinerseits fatale Auswirkungen haben könnte. Die Dominanz der Neokonservativen hatte gewiss unangenehme Folgen für die Welt – ähnlich unangenehm könnte es aber werden, wenn sie diesen Einfluss nun verlieren. Ihnen verdankt sich etwa, erinnerte jüngst der deutsch-persische Islamwissenschaftler Navid Kermani in der Süddeutschen Zeitung, „dass heute in Leitartikeln, auf Konferenzen, G-8-Gipfeln und in arabischen Fernsehstudios umfassend über politische und soziale Reformen“ in der muslimischen Welt debattiert wird.

Die revolutionär-missionarische Politik, die die USA seit dem 11. September verfolgten, hat die Thematik schließlich auf die Tagesordnung gesetzt: Demokratisierung, Reformen, die Abkehr von der westlichen Übung, „Hurensöhne“ zu unterstützen, solange sie „unsere Hurensöhne“ sind, auch die schrecklichsten Despoten zu umgarnen, wenn sie nur – wie etwa die saudischen Prinzen – „unsere“ strategischen Interessen wahren oder zumindest vorgeben zu wahren. Wie ernst gemeint diese Wende auch gewesen sein mag, Rhetorik ist nie nur Rhetorik, und die Abkehr von der westlichen Stabilitätsversessenheit hat die Dinge an einigen der unangenehmsten Flecken der Welt zumindest ein wenig in Bewegung gebracht.

Nicht das ist der US-Administration und ihren Vordenkern vorzuwerfen – vorzuwerfen ist ihnen nur, dass sie dies mit einer völlig kontraproduktiven unilateralistischen Hybris verbanden und dass sie allen Ton auf die militärische Seite der Chose gelegt haben. Deswegen sollte man aber nicht die Ziele selbst verächtlich machen.

Genau diese Gefahr besteht nun aber unübersehbar: Angesichts des Chaos im Irak würden sich die USA dort womöglich mit Freude jedem Autokratieanwärter an den Hals werfen, wenn der nur Stabilität verspräche, und angesichts islamistischen Terrors in Saudi-Arabien droht die Idee, die Prinzen zu demokratischen Reformschritten zu zwingen, deutlich an Anhängern zu verlieren.

Mehr noch: Der liberale, auf die Verteidigung der Menschenrechte bedachte Universalismus könnte als solcher in die Defensive geraten. Gerade hatte er im Westen erst Wurzeln geschlagen. Die Überzeugung, dass schweren Menschenrechtsverletzungen und Genoziden entgegenzutreten sei – wenn nötig, in letzter Konsequenz mit militärischen Mitteln –, hatte die Interventionen in Bosnien und im Kosovo erst ermöglicht. Zudem gab es auch jenseits des berechtigten westlichen Eigeninteresses, die Al-Qaida-Basen in Afghanistan zu zerstören, gute Gründe, die für den Sturz des Taliban-Regimes sprachen. Eine der unerfreulichsten Konsequenzen des Irakdesasters ist daher der Umstand, dass es das nächste Mal wohl ziemlich schwierig würde, Mehrheiten für die Unterstützung militärischer Aktionen zu gewinnen, wenn wieder irgendwo ein Regime seine Bevölkerung abzuschlachten beginnt oder unter die Knute einer totalitären Herrschaft zwingt.

Natürlich liegt die Hauptverantwortung dafür bei George W. Bush, wie Leon Wieseltier, der renommierte Literaturkritiker der New Republic, formuliert: „Er rechtfertigte diesen Krieg gegenüber den Amerikanern auf eine Art, die es für lange Zeit schwierig machen wird, beinahe jeden Krieg gegenüber den Amerikanern zu rechtfertigen.“ Dies gilt wohl auf ähnliche Weise für Europa: Allianzen zu schmieden oder innerparteiliche Kritiker zu überzeugen würde wohl noch komplizierter, sollte es in Zukunft einmal nötig sein, irgendeinem Milošević-Nachahmer beim ethnischen Säubern in den Arm zu fallen.

Nicht der Bruch mit den Prinzipien hergebrachter Realpolitik ist den liberalen amerikanischen Falken – linker wie rechter Spielart – vorzuwerfen, sondern der Umstand, dass die von ihnen verfolgte Politik nicht realistisch war: Man kann mit kriegerischen Mitteln despotische Strukturen zerstören, doch daraus entstehen noch keine demokratischen Institutionen; mit Krieg kann man die Netzwerke der Radikalen treffen, den Radikalismus selbst aber wird er eher schüren.

Der liberale, auf die Verteidigung der Menschenrechte bedachte Universalismus gerät in die Defensive

Politische Öffnung hilft Dissidenten jeder Couleur, kann also auch den Spielraum für islamistische Militante erweitern. Wer ihnen mit militärischen Mitteln entgegentreten, gleichzeitig aber den Wind aus den Segeln nehmen will, muss auf die Legitimierung seines Vorgehens besonders bedacht sein, und daher schießt sich, wer eine unilaterale Hegemonialpolitik betreibt, selbst ins Bein. Es bringt wenig, die eine Ursache des radikalislamistischen Zorns – die autokratischen Regimes – mit der einen Hand wegzuräumen und ihm mit der anderen neue Energie zuzuführen: indem man nämlich neokoloniale Machtpolitik betreibt. Weil sie diese Aporien ihres Tuns nicht beachteten, sind die neokonservativen und liberalen Falken insbesondere in Hinblick auf ihre eigenen Ziele gescheitert.

Das desavouiert ihr Vorgehen, aber nicht ihre Ziele. Weder ist darum der Anspruch falsch, demokratische Reformen in der arabischen Welt zu inspirieren, noch wird deshalb die alte Praxis richtig, machtzynisch den Despoten beim Menschenrechtsverletzen freie Hand zu lassen. Und schon gar nicht sollte diese Erfahrung dazu führen, dass man sich das nächste Mal, wenn irgendwo eine verfolgte Bevölkerung westlicher Nothilfe bedarf, wieder passiv zurücklehnt. Es ist Zeit, darauf hinzuweisen – gerade dann, wenn man das Abenteurertum der US-Regierung zu Recht kritisiert hat.

ROBERT MISIK