: Parteitaktik regiert
Polens designierter Ministerpräsident Marek Belka hat das Vertrauen des Parlaments – aber nur bis Oktober
WARSCHAU taz ■ Polens Parlament spielt auf Zeit. Gestern sprachen die Abgeordneten des Sejm dem designierten Ministerpräsidenten Marek Belka ihr Vertrauen aus. Allerdings nur für drei Monate. Im Oktober, sobald der neue Haushaltsplan steht, muss sich Belka erneut einer Vertrauensabstimmung stellen.
Seit dem 2. Mai regieren der Wirtschaftsprofessor und sein Kabinett ohne parlamentarisches Mandat. Die meisten Minister stammen noch aus der alten Regierung Leszek Millers und gehören dem Bündnis der demokratischen Linken (SLD) an. Miller war einen Tag nach dem EU-Beitritt Polens zurückgetreten. Nach zahlreichen Korruptionsaffären in seiner Regierung hatte sich nicht nur der Reformflügel von der SLD abgetrennt und eine eigene Partei, die Sozialdemokratie Polens (SDPL) gegründet, sondern auch die Zusammenarbeit mit Miller aufgekündigt. Staatspräsident Aleksander Kwaśniewski hatte seinen Vertrauten Marek Belka mit der Regierungsbildung beauftragt.
Noch vor fünf Wochen hatten die Sozialdemokraten Belka und sein Kabinett bei der Vertrauensabstimmung im Sejm durchrasseln lassen. Sie hofften auf einen Sieg bei möglichst raschen vorgezogenen Wahlen. Dass sie sich nun doch am Mittwoch dazu durchrangen, die Regierung Belkas zu unterstützen, hat mit dem mageren Abschneiden der SDPL bei den Wahlen zum Europäischen Parlament zu tun. Um ein Haar wäre die Partei an der Fünfprozenthürde gescheitert. Würde – gerechnet von heutigen Tage an – verfassungsgemäß im August gewählt, hätte die SDPL kaum eine Chance, den Sprung in den Sejm zu schaffen. Die Partei hofft nun, ihr Profil in der Haushaltsdebatte schärfen zu können. Schon jetzt konnte sie als Bedingung für das „Ja“ zu Belka eine sozialverträglichere Wirtschaftspolitik durchsetzen.
Doch nicht nur die SDPL sprach Belka diesmal ihr Vertrauen aus. Zugestimmt haben auch all jene Abgeordnete, die ihre früheren Parteien verlassen haben und nun als „Unabhängige“ im Sejm ihre hohen Diäten nicht verlieren wollen.
An Belkas Vorhaben hat sich kaum etwas geändert. Wie vor fünf Wochen sieht Belka fünf Schlüsselaufgaben: Er will Armut und Arbeitslosigkeit bekämpfen, das erste EU-Jahr Polens zu einem Erfolg machen, das Gesundheitssystem wieder ins Laufen bringen, die Privatisierung von Staatseigentum besser kontrollieren und die polnischen Soldaten in absehbarer Zeit aus dem Irak zurückholen.
Neuesten Umfragen zufolge haben 92 Prozent der Polen kein Vertrauen zum gegenwärtigen Parlament, 67 Prozent wollen möglichst rasch vorgezogene Parlamentswahlen, wobei aber 25 Prozent die Ferienzeit im August berücksichtigen und sich für den Herbst als Wahltermin aussprechen. 40 Prozent der Polen lehnen die Übergangsregierung Belkas ab, 25 Prozent wollen sie bis zum Herbst und noch einmal 21 Prozent bis zum Frühling 2005. Bis dahin, so Präsident Kwasniewski, könnten die wichtigsten Aufgaben erledigt sein: „Wir sichern uns ein paar Monate für eine ruhige Arbeit ohne ständige Diskussionen, wann und wie es Wahlen geben soll. So stabilisieren wir die Lage in Polen.“
GABRIELE LESSER