: Mehr Streit um Mehrarbeit für mehr Arbeit
Die IG-Metall sieht die Einführung der 40-Stunden-Woche in zwei Siemens-Standorten als Ausnahme. Doch Arbeitgeberpräsident Hundt hält den Abschluss schon für ein gelungenes Modell für andere Tarifverhandlungen
BERLIN taz ■ Die Gewerkschaft IG Metall sieht die 40-Stunden-Woche bei Siemens als Einzelfall. „Wenn die Arbeitgeber daraus einen Generalfall machen wollen, wird sich die Gewerkschaft widersetzen“, warnte IG-Metall-Chef Jürgen Peters gestern im Deutschlandradio.
Siemens und die IG Metall hatten sich am Donnerstag nach monatelangen Verhandlungen auf einen Ergänzungstarifvertrag für zwei Werke am Niederrhein geeinigt. Dieser sieht in Bocholt und Kampf-Lintfort unter anderem eine durchschnittliche Wochenarbeitszeit von 40 Stunden vor, außerdem verzichten die 4.000 Mitarbeiter auf Urlaubs- und Weihnachtsgeld. Stattdessen wird ein Jahresbonus gezahlt, dessen Höhe davon abhängt, wie viele Handys Siemens verkauft. Siemens verpflichtete sich im Gegenzug den Flächentarifvertrag und die 35-Stunden-Woche prinzipiell anzuerkennen. Nur in besonderen Fällen soll davon abgewichen werden. Nach dem Abschluss dieser Vereinbarung wird Siemens die in beiden Werken angesiedelte Herstellung von Mobiltelefonen doch nicht, wie vorher angedroht, nach Ungarn verlagern. 2.000 Arbeitsplätze sollen so erhalten werden.
Arbeitgeberpräsident Dieter Hundt begrüßte die Vereinbarung „als ein gutes Beispiel für die notwendige tarifvertragliche Flexibilität“. Hundt sieht den Ergänzungstarifvertrag als Modell „für eine neue Kultur der Tarifpartnerschaft“. Dagegen hält der für Siemens zuständige IG-Metall-Vertreter Werner Müller den Abschluss für Erpressung: „Die Pistole an der Schläfe, den Rücken zur Wand – was soll man da machen“, sagte Müller der taz. „Die Alternative wäre Massenarbeitslosigkeit gewesen.“ Für das Jahr 2006, wenn die Vereinbarung ausläuft, kündigte Müller an: „Der Kampf geht weiter.“
Bei Siemens sind die Töne leiser, aber nicht weniger entschieden. „Diese Vereinbarung öffnet den Weg zu flexibleren Modellen“, sagte ein Siemens-Sprecher gegenüber der taz. „Allerdings fordern wir nicht automatisch für jeden Standort die 40-Stunden-Woche.“ Dennoch steht fest: Das ausgehandelte Modell ist zumindest für die bei Siemens als Problemstandorte geltenden Werke Bruchsal, Kirchheim/Teck, Karlsruhe und Nürnberg im Gespräch. Hier sind ungefähr 2.300 Arbeitsplätze in Gefahr.
„Wir wissen jedoch nicht genau, was Siemens hier plant“, sagt Wolfgang Häbisch vom Betriebsrat des Siemens-Werkes Karlsruhe gegenüber der taz. „Wenn es eine Arbeitsplatzgarantie gäbe, würde die Belegschaft wohl zustimmen.“ Häbisch fürchtet aber ebenso wie andere Betriebsräte, dass über das Mehrarbeitmodell Entlassungen durchgedrückt werden sollen. Denn Siemens hat in Bocholt und Kampf-Lintfort zwar die Standorte garantiert, nicht jedoch die Zahl der Arbeitsplätze.
„Die Konzernführung hat uns klar gesagt, dass nicht mehr Aufträge in Sicht sind“, sagt Häbisch. „Dann braucht man auch nicht mehr die gleiche Anzahl von Arbeitern, Siemens wird sicherlich nicht fürs Rumstehen bezahlen.“ Häbisch fürchtet für Karlsruhe den Verlust von jedem achten Arbeitsplatz. Auch für das Trafowerk in Nürnberg sieht Siemens-Experte Müller die schlechte Auftragslage als größtes Problem: „Dort nützt auch eine Arbeitszeitverlängerung nichts.“
Weiter fraglich ist auch, ob die Siemens-Vereinbarung für die demnächst anlaufenden Arbeitszeit-Verhandlungen der IG-Metall mit DaimlerChrysler Modell stehen soll. Gewerkschaftschef Peters sagte, man müsse zwischen Normal- und Sanierungsfall unterscheiden. Der Konzern selbst wollte sich gestern dazu nicht äußern.
Der Gelsenkirchener Arbeitszeitforscher Steffen Lehndorff stellte fest, dass die Siemens-Vereinbarung vom Donnerstag ein Zeichen für eine generelle Absenkung des Tarifniveaus sei. Gegenüber der taz sagte Lehndorff: „Wenn man der Logik folgt, wird es in zwei Jahren um die 45-Stunden-Woche gehen. Das ist eine Spirale ohne Ende.“
A. LEHMANN/D. SCHULZ