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Archiv-Artikel

Höfliche Troublemaker

Freizeitwerte in der großen Stadt (Teil 4): Eine Kampfnacht im Boxstall verspricht Abenteuer mit Zivilisationsverweigerern. Und tatsächlich: Zum Flackern der Teelichter schalten alle ihr Handy aus

von KLAUS IRLER

Manchmal genügt eine Schlange an der Supermarktkasse. Man hat es eilig, ist spät dran und vor einem fangen sie an, ihre Euros bis auf die letzte Cent-Stelle einzeln aus dem Geldbeutel zu klauben. Selbst fehlt einem dann in der U-Bahn das Kleingeld zum Kartenkauf und der Typ im Kiosk weigert sich, zu wechseln. Also versucht man’s beim Bäcker, sieht den Andrang am Tresen, läuft zurück zum Kiosk und auch da stehen jetzt Leute. Die U-Bahn fährt ein und da ist er wieder, der Wunsch, es möge eine Wand aus dem Boden wachsen. Eine Wand, die einfach nur dazu da ist, ein Loch in sie zu hauen.

Die Wand bleibt aus, dafür kommt der Gedanke an Sylvester Stallone, wie er als Rocky Rinderhälften ins Kühlhaus wuchtet und dort mit bloßen Fäusten verprügelt. Ia-Aggressionsabfuhr nach Feierabend, die sich auch beim Zuschauen überträgt. Noch besser aber muss das beim Live-Erlebnis funktionieren: ein Zweikampf, echter Schweiß, echtes Blut, potenzierter Effekt. Ein Problem ist der Sommer, die Liga pausiert, nur mit Mühe lässt sich etwas finden: Eine Profi-Kampfnacht unter dem Motto „The New Generation“, veranstaltet von der Berliner International Fight Club Organisation. „Fight Club“ hört sich schon mal gut an, im Kino war das ein kultischer Ort anarchischer Zivilisationsverweigerer, ein Keller am Rande der Stadt, finster und verlassen.

Tatsächlich liegt auch der IFCO-Boxstall in einem Gewerbegebiet-Hinterhof, aber hier stehen alte Backsteinhäuser mit kleinen Türmchen, darin mittelständische Unternehmen, Maschinenbau, eine Druckerei. Ein stillgelegtes Gleis läuft malerisch durch den Hof und die Gebäude sind durchnummeriert. Haus Nummer 74 beherbergt eine Firma für Schrauben- und Präzisionsdrehteile und – den Boxstall. Durch ein kahles Treppenhaus geht es nach oben. Ein kleiner Tresen steht da zum Empfang, dahinter ein Security-Schrank sponsored by troublemaker.de, der ausgesprochen höflich den Weg weißt: den Flur entlang, rechts durch die Tür. Dahin, wo die Hitze herkommt.

Die Hitze ist zu Hause in einem hellen Raum mit Teppichboden und Deckenfenstern. Von der Decke hängen bunte Flaggen, wie ein Raumteiler steht in der Mitte der Ring. Es herrscht Rauchverbot. An weiß getäfelten Wänden hängen Boxplakate und vor neuen, gepolsterten Kongresszentrum-Stühlen stehen Bistrotischchen. Auf denen hat die Promotorin mit dem Spitznamen Lady Pitbull Teelichter, Erdnüsse, Plastikblumen und kleine Clownspuppen drapiert.

Das Gym füllt sich, gepflegte Damen und Herren im besten Erwerbstätigen-Alter nehmen Platz. Vor allem die Frauen haben sich rausgeputzt: schwarze Abendkleider, Schmuck, Schminke trotz Treibhausklima. Man spricht leise, diskret, fächelt sich Luft zu und lässt die Teelichter flackern. Zivilisationsverweigerer? Der Ringsprecher sagt: „Seien Sie so nett und machen Sie Ihre Handys aus.“

Und dann: „In der roten Ecke: Roooberrrt Rrrolle!“ Kommt ein bisschen kraftlos, diese Ansage, und die Musik zum Einzug der Boxer kommt zu spät, mit dem Lautstärkeregler stimmt was nicht. Deutlich spürbar dafür: die Konzentration im Raum.

Die Halbschwergewichtler stehen sich gegenüber, springen mit dem Gong aufeinander zu, Hektik, Fotografen und plötzlich geht einer der beiden mit einem leisen Stöhnen in die Knie. „Sieg durch K. o. nach einer Minute und vierzig Sekunden.“ Wie jetzt? Vorbei? Soll vorkommen, so was: Ein Körperhaken, soll schlimmer sein als ein Treffer auf den Kopf. Trotzdem: Das kann’s nicht gewesen sein.

War’s auch noch nicht, da gibt es noch eine Paarung, die mehr miteinander anfangen kann: Stirn an Stirn kleben die beiden im Ring aneinander, an jeder Stirn hängt ein gedrungener Körper, mehr breit als hoch. Keiner will der sein, der zurückweicht, sie schieben sie sich durch den Ring, ein zäher, torkelnder Tanz. Immer wieder brechen die Fäuste aus den Körpern heraus, schnelle Kombinationen, die Zuschauer jubeln, wünschen sich, der Ausbruch könnte dauern, eine Entscheidung herbeiführen. Aber die Boxer behalten die Kontrolle, gehen nach Angriffen sofort wieder zurück zur Grundstellung, schieben, kalkulieren mit der Erschöpfung des anderen. Es sind nur Momente, in denen das Pokerface zerfällt, in denen die Bewegungen unkoordinierter werden.

Erst in der vorletzten Runde werden die beiden ärgerlich. Man weiß nicht, liegt’s am Kamerateam, das zwecks Nachbereitung des Kampfgeschehens draufhält, oder am Trainer in der Ecke, der mit ruhiger Stimme immer alles besser weiß. Oder liegt’s an der Salbe, die während der Auszeit nötig war, um die kleine Wunde an der Augenbraue vom Bluten abzuhalten.

Gewonnen wird dieser Kampf nach hart erarbeiten Punkten, ganz ohne Anarchie. „Unter den Künstlern gibt es mehr Verrückte als bei den Boxern“, hat Exweltmeister René Weller einmal nach einem Besuch der Kasseler Documenta gesagt. Möglich, so darf man aus Wellers Statement schließen, dass die wirklich effiziente Lösung für das Problem der Aggressionsabfuhr lautet: Man sollte Künstler werden.