: Das Imperium weiß, was es tut
Die „Fußballeuropameisterschaft“ ist effizienter als Antidepressiva im Trinkwasser
Für all die wenigen der Gnade der totalen Fußballignoranz teilhaftigen Mitwesen, die sich wie ich erst mühsam mit der Materie vertraut machen müssen, hier noch einmal kurz zur Erklärung: Fußball ist ein von zwei elfköpfigen Mannschaften betriebenes Kampfspiel, bei dem es um die Versenkung eines Hohlballes mit Lederhülle durch Stoß mittels Fuß, Bein, Kopf oder durch Einsatz des Körpers, unter Vermeidung absichtlicher Berührung mit der Hand oder dem Arm, im Tor des Gegners geht. In China wurde der „Ts’ ah’ Küh“ genannte Fußball schon 3000 vor unserer Zeitrechnung gespielt. Wir sehen daraus, dass die Menschheit in 5.000 Jahren keinerlei Fortschritte gemacht hat, was die Vergeudung ihrer Freizeit anbelangt. Nur der Farbfernseher ist neu.
Während zu Zeiten der chinesischen Kaiser Fußball noch ein reines Primärphänomen war (ein Spiel, bei dem man mitspielte), hat es sich inzwischen zu einem Sekundärphänomen gewandelt, zu einem Spiel, bei dem man zuschaut und für dieses Zuschauen bezahlt – mit Geld, mit der Gesundheit, doch vor allen Dingen mit seiner Freizeit. Das hat einen eminenten Nutzeffekt für das Establishment, denn wer keine Zeit hat, über seine miserablen Lebensverhältnisse nachzudenken, wird auch in nicht in der Lage sein, gegen die Entscheidungen einer fernen Zentralregierung aufzubegehren. In diesem Punkt sind sich das moderne Europa und das Imperium Romanum verblüffend ähnlich. Damals, zu Cäsars Zeit, hieß das Konzept „Spiele“. Es fand bereits in Stadien statt, und der einzige Unterschied zum Kampfspiel Fußball bestand darin, dass sich die Spieler einfach totschlugen, zerquetschten oder von rülpsenden Löwen verspeist wurden.
Vordergründig trägt das neuzeitliche Konzept „Fußball“ nur dazu bei, einige tausend Arbeitsplätze in der Knabberindustrie, den Alkohol verarbeitenden und vertreibenden Betrieben, in der Rauchwarenproduktion und im Devotionalien-Marketing zu sichern. Doch abgesehen davon, dass jenes ausgeklügelte Programm dem europäischen Gesundheitswesen Übergewichts-, Bewegungsmangel- und Demenzpatienten in Fülle beschert – es macht die Mehrheit der Europäer glücklich, zufrieden und willenlos! Den Europäern die „Fußballeuropameisterschaft“ vorzusetzen ist effizienter, als Antidepressiva im Brot oder im Trinkwasser auszubringen. Die Stimmung im Circus Maximus war immer am Hochkochen: staatliche Gefühlslenkung, wie sie auch noch heute perfekt funktioniert.
„Schau, der moderne Mann weiß nix außer Fußball und Sex“, sagte O. W. Fischer sehr treffend, bevor er an sexueller Überanstrengung starb. Inzwischen darf man getrost die moderne Frau in sein Diktum mit aufnehmen. Ernst Jünger dagegen war absolut kein moderner Mann, denn er wusste das eine so wenig wie das andere. Als Fachmann für Kampfspiele der blutigen Art gefragt, was er von der vermeintlichen Kriegssimulation zwischen militanten Fanatikern halte, bedauerte er „dass Nationalspielen politische Wertungen unterlegt werden“. Erklärtermaßen habe er „in seinem langen Leben kein einziges Fußballspiel gesehen noch sich mit dem Spiele selbst befasst“. Ein ehrenwerter und kluger Mann, was diesen Punkt betrifft. Über den Rest seines sexlosen Lebens schweigen wir. Und was hat Theodor W. Adorno zum Fußball gesagt? Na egal, es werden schon gehörig aufgepumpte Thesen gewesen sein.
Was ist jedoch der so genannte moderne Mensch, sofern er nicht gerade mit Gleichgesinnten vor den Stätten der Fußballübertragung herumlungert und sich kollektiv berauscht, für ein Typ? Er versteht es glänzend, in den Rahmen einer kultivierten Unterhaltung, bei der das Gehirn gerade einen Gang höher schaltet, urplötzlich seine kruden Obsessionen einzubringen. Dann hagelt es Spielsituationen, Tore, Interna, persönliche Aversionen, Hassprojektionen und Lamentos. Sogar promovierte Wissenschaftler, deren Sinn nach Höherem streben müsste, stürzen unterm Unstern des Fußballs mit den Schnauzen in die brettharte Grasnarbe. Wochen-, monate-, gar jahrelang gelang es dem Imperium bereits mit äußerst wenig Aufwand, die revolutionärsten, gefährlichsten Individuen Europas einzulullen. Zu noch Höherem berufene Federn schrieben schon zuhauf über lederne Hohlbälle.
Moderne Mitbürger, alte Freunde, randvolle Römer – geht in euch, erkennt euch selbst, erschreckt gehörig und kehrt um, bevor das Imperium zum nächsten Tritt gegen eure luftgefüllten Hohlbirnen ausholt! TOM WOLF