Jäger der verlorenen Tat

Das „Abc der Liebe“ summend: So kommt man aus dem anrührenden Film „Mutter“, in dem Miklós Gimes nicht nur ein Bild seiner Eltern, sondern auch der ungarischen Revolution und ihrer wechselhaften Rezeption nachzeichnet

Sechs Jahre war Miklós Gimes alt, als er nach der Niederschlagung der ungarischen Revolution von 1956 an der Hand seiner Mutter über die Grenze nach Österreich floh, um in der Schweiz Asyl zu finden – und dort zu bleiben. Sein Vater, Miklós Gimes, einer der führenden Köpfe der Revolution und enger Mitarbeiter des ungarischen Ministerpräsidenten Imre Nagy, blieb in Ungarn, um den Widerstand zu organisieren. Er wurde verhaftet und 1958 zusammen mit Nagy und weiteren führenden Reformkommunisten in einem Geheimprozess zum Tode verurteilt, umgebracht und verscharrt.

1989, mitten im demokratischen Umbruch, wurden die damals Hingerichteten exhumiert und nach einer Totenfeier auf dem Budapester Heldenplatz zu Grabe getragen. Miklos, der Sohn, Journalist beim Züricher Tagesanzeiger, wandte sich im selben Jahr zum ersten Mal in seinem Leben seiner Familiengeschichte zu und beschloss, erstmals nach Ungarn zu reisen. So entstand das Projekt eines Dokumentarfilms. Herausgekommen ist ein Porträt seiner Mutter, einer zur Zeit der Dreharbeiten 80-jährigen Dame. Ihre Wachheit, ihre Intelligenz und ihr Humor, vor allem aber ihre Wahrhaftigkeit machen diesen Film zu einem außerordentlichen, ergreifenden Zeugnis.

Miklos, dem Sohn, gelingt es, uns verständlich zu machen, warum sich so viele junge Leute nach 1945 den Kommunisten anschlossen, wie sie sich betäubten beim raschen Aufstieg in der Nomenklatura. Die Mutter Lucy hatte, im Gegensatz zu ihrem gebildeten Mann, nie ein Buch von Marx gelesen, nie eine Schulung besucht, sie war einfach begeistert. Später wachten beide auf, bemühten sich um Wiedergutmachung an den Opfern, um die Heilung des sozialistischen Ideals. Sie wurden, wie Milan Kundera es ausgedrückt hat, zu Jägern nach der verlorenen Tat.

Der Vater starb als demokratischer Sozialist, die Mutter hat das politische Engagement in der Emigration von sich abgeworfen: Es wurde für sie nachträglich zu einer bloß angenommenen, äußerlichen Art zu leben. Sie hat sich durchgeschlagen, diese Mutter Courage, und sich um ihren Sohn gekümmert. Mit Erfolg.

Miklós Gimes erzählt die zwei Leben seiner Mutter, das ungarische und das im Schweizer Exil fernab jedes heldischen Gestus. Er versteht es, in seinen zahlreichen Interviews mit Freunden und Kampfgefährten einen gänzlich unpathetischen Ton zu finden, sie mit Takt und Beharrlichkeit auf das Terrain zu führen, wo Privates und Öffentliches einen oft schwierig zu lösenden Knäuel bilden. Das trifft vor allem auf die Behandlung der Tatsache zu, dass Gimes, der Revolutionär, eigentlich zwei Witwen hinterlassen hat: die eine, seine Frau Lucy, die andere die Geliebte seiner letzten Lebensjahre, Aliz Halda. Lucy war eigentlich entschlossen, ihren unentschiedenen Mann vor die Wahl zwischen sich und Aliz zu stellen – da kam die Revolution von 1956 dazwischen. Aliz Halda kämpfte 1989, Jahrzehnte später, darum, ihren Platz als „legitime Witwe“ einzunehmen, und wurde nicht müde, ihren Teil am Heldennimbus des Ermordeten zu beanspruchen. Darauf hat die Mutter von Miklós Gimez nie Wert gelegt.

Lucy liebt die Musik, die ernste wie die unterhaltsame, auch in Gimez’ Film sitzt sie noch am Klavier, intoniert die Schnulzen, die seinerzeit in Ungarn en vogue waren. György Ligeti, der bedeutende ungarische zeitgenössische Komponist, hat für den Film die Musik geschrieben. Sie hilft uns dabei, Miklós Gimez’ Expedition zurück in eine schreckliche Zeit zu erfühlen. Wir verlassen das Kino und summen, ganz von Miklos’ Mutter hingerissen, deren Lieblingsschlager: das „Abc der Liebe“.

CHRISTIAN SEMLER

„Mutter“, im Kino der Brotfabrik, 19.30 Uhr