: Die mit dem Kreuz rocken
Selbst der Glaube nimmt im Körper Platz. Das „Jerusalem Syndrom“ von Sommer Ulrickson in den Sophiensælen folgt dem Hunger nach religiösem Erleben. Aber nicht sehr weit und nicht sehr genau. Bußübungen im Ungefähren
Ergriffenheit und Hingabe, Vertrauen und Hysterie: Alle diese Topoi der Berührung durch die Religion haben den Körper zum Schauplatz. Sie bezeichnen Zustände der Erregung, die aber im Kontext der zwischenmenschlichen Beziehungen eine ganz andere Bedeutung haben. Von diesen Ambivalenzen lebt das Stück „Jerusalem Syndrom“ der aus Kalifornien stammenden und seit 1998 in Berlin arbeitenden Choreografin Sommer Ulrickson.
Sie und ihre Tänzer nehmen wörtlich, was in den Beschreibungen des religiösen Erlebens den Körper betrifft, und übersetzen es in tanzbare Figuren. Und dennoch zweifeln sie bei jedem Schritt an der Glaubwürdigkeit und Authentizität solcher Formen der Identifikation mit einer mythischen Vorgabe. Der Wahn, den sie bebildern – und als pathologische Erscheinung weist schon der Titel des Stücks, „Jerusalem Syndrom“, die Angelegenheit aus –, dieser Wahn ist vielmehr kollektiven Neurosen und Psychosen geschuldet, angestiftet und inszeniert durch die Massenmedien, die in diesem Punkt die Kirchen längst überrundet haben.
Viel vorgenommen haben sich die sechs Darsteller und ihre Choreografin: die Wiederkehr der totgeglaubten Religiösität mit ungeahnter Macht. Allein die Form befriedigt nicht. Sie löst zu sehr in Tingel-Tangel und parodistische Splitter auf, was doch beschrieben werden will. Das Publikum sitzt auf einem dreiseitigen Podest in der Mitte der großen Bühne der Sophiensæle und wird von den Performern ständig umkreist. Einen Teil sieht man, andere Szenen hört man erst, bevor sie vor den eigenen Augen vorbeiziehen. Ursprünglich mag dafür die Form des Stationendramas des Kreuzweges, der von Reiseführern mit Touristen abgeschritten wird, wie in der Eingangszene des Stücks, Pate gestanden haben. Manchmal erinnert das Vorüberziehen der Figuren auch an Prozessionen und Pilgerwege. Meistens aber zerbröselt der Zusammenhang, und Tanz und Slapstick spazieren an uns vorbei wie eine Nummernfolge.
Was sie tun? Sie rocken mit dem Kreuz, sie rutschen auf Knien und Händen, sie werfen sich in den Staub, sie verfallen der orientalischen Musik, sie hängen sich in eine Himmelsleiter oder liegen als gefallene Engel auf dem Boden, sie verhüllen und verbergen sich, sie werden zu lebenden Kerzenleuchtern. All dies wird immer wieder unterbrochen von sprachlichen Szenen: von stolpernden Gebeten, von Radioshows, die manipulativ Bekenntnisse erpressen, von Gameshows um den schnellsten Läufer auf den Spuren von Jesus, von Anrufungen Gottes, die als Fluch oder in sexueller Ekstase gemeint sein könnten. All dies häuft einen Berg von Material an, der das Fortwirken religiöser Formeln in die Banalitäten des Alltags hinein verfolgt.
Ohne Zweifel ist das Stück religionskritisch gemeint. Im Programmheft wird Mosche Zuckermann zitiert: „Religion ist Zivilisations Neurose.“ Es gelingt der Gruppe auch vage, diesen Zusammenhang zu skizzieren. Ihre stärksten Seite zeigen die Performer in den grotesken Verzerrungen der Rituale des Glaubens. Doch dies ist nur die eine Seite.
Denn diese heftige Bewegung der Distanzierung wäre wohl kaum notwendig, gäbe es nicht auf der anderen Seite noch ein Bedürfnis oder einen Mangel, den die Säkularisierung hinterlassen hat und der jetzt in der Wiederkehr der Religionen virulent wird. Damit will sich das Stück zwar auseinander setzen, aber daran überhebt es sich. Eine neue Instrumentalisierung der Religionen in den Legitimationen der Politik aber ist schon der Hintergrund, vor dem die Produktion, die mehr sein will als ein unterhaltsames Tanzstück, ihre Aktualität behauptet.
KATRIN BETTINA MÜLLER
Sophiensæle, 28. Juli und 30. Juli bis 3. August, jeweils 21 Uhr