: Ritzen und schneiden gegen die Anspannung
Kliniken beobachten, dass sich immer mehr Jugendliche selbst Verletzungen zufügen. Besonders Mädchen und junge Frauen sind davon betroffen. Ein Hilfeschrei, hinter dem sich schwere psychische Erkrankungen verbergen können
Sie schneiden sich Arme und Beine mit Rasierklingen auf, hauen den Kopf gegen die Wand, reißen sich büschelweise Haare aus – immer mehr Jugendliche in Berlin verletzen sich selbst, Tendenz steigend. „Vor zwei Jahren haben wir in unseren Kliniken monatlich höchstens 10 Jugendliche behandelt – heute sind es rund 30“, sagt Oliver Bilke, Direktor der Kliniken für Kinder- und Jugendpsychiatrie am Klinikum Hellersdorf und am Humboldt-Klinikum.
Vor allem Mädchen zwischen 14 und 18 Jahren sind betroffen: „Anders als Jungs tragen die meisten Mädchen ihre Aggression nicht nach außen“, sagt Bilke. „Sich selbst zu verletzen ist dann ein Ventil für innere Anspannung.“ Oft seien emotionale Vernachlässigung, Stress und ein schlechtes Verhältnis zum eigenen Körper Auslöser für Selbstverletzungen, „bei etwa einem Drittel der Fälle gibt es Hinweise auf sexuellen Missbrauch“, so Bilke.
Tatsächlichen Schmerz spüren die Betroffenen nicht. „Wenn ich mir die Arme aufritze, bin ich völlig von mir losgelöst, so als würde ich mir selber von außen dabei zuschauen“, schreibt eine Schülerin in einem Internetforum. „Erst wenn ich mein eigenes Blut sehe, hört das dumpfe Gefühl auf und ich bin wieder richtig in mir.“ Für viele wirkt das Schneiden und Ritzen wie eine Droge, von der sie alleine nicht wieder loskommen: „Ich war zwei Jahre lang clean und habe wieder angefangen mich zu schneiden – das Bedürfnis geht einfach nicht weg“, schreibt eine andere Internetnutzerin.
In einigen Foren werden sogar Bilder von Wunden und Narben ausgetauscht und Tipps gegeben, wie sich unangenehme Fragen von Freunden unauffällig beantworten lassen: „Mal einfach mit Filzstift über die Narben und erzähl, deine Nachbarin in der Schule hätte dich angemalt – funktioniert immer!“, rät eine Betroffene im Internet.
Sich selber zwanghaft körperlichen Schaden zuzufügen ist für den Kinderpsychiater Bilke immer ein Hilfeschrei: „Die Verletzungen sind ein Hinweis auf eine andere psychische Erkrankung: Psychosen, ein beginnendes Borderlinesyndrom oder posttraumatische Störungen können sich so äußern.“ Etwa 20 Prozent aller psychisch erkrankten Jugendlichen verletzen sich selbst. Besonders instabile Persönlichkeiten hätten oft diejenigen, die nach außen stark und dominant wirken, so Bilke.
Erst wenn die eigentlichen Ursachen für den Drang nach Selbstverletzung bekannt sind, kann den Jugendlichen auch geholfen werden. „Unsere Erfolgsquote ist dann ziemlich hoch“, sagt Bilke. „Bei zwei Dritteln der jungen Patienten, die wir behandeln, schlägt eine Therapie schon nach wenigen Wochen an.“ Durch Einzel- oder Familientherapie lernen die Jugendlichen, ihren Körper besser zu akzeptieren und ihre Gefühle und Agressionen richtig auszuleben.
ALENA SCHRÖDER