: Das Ende des Verstehbaren
Wenn die Kommunikationsstörung zum Opernstoff wird: Beobachtungen über das Verschwinden des Textes in aktuellen Inszenierungen
VON FRIEDER REININGHAUS
Fast vierhundert Jahre lang war es eine schiere Selbstverständlichkeit, dass Musiktheater auf Literatur fußt. Oper war nicht anders denkbar denn als vertonter Text, der meist aus der Bearbeitung eine bereits bekannten Dichtung oder der Kompilation verschiedener Texte er- wuchs.
Doch im späten 20. Jahrhundert begann der Sinn stiftende Text immer mehr in den Hintergrund zu treten und die Musik im Theater unmittelbar und im Kontext von Bildern zu wirken. Obwohl die literarische Recherche bei der Generierung des Stoffes oft sehr gewissenhaft und ambitioniert erscheint, wurden die Worte selbst zum musikalisch gestalteten „Material“.
Wie aber nun mit dieser Restmaterie in den Kompositionen und der Bühnenrealisierung verfahren wird: Das zeichnet den Grad der Modernität in einigen Aufsehen erregenden Uraufführungen der letzten Spielzeit aus, die nach Dramen, Hörspielen, Romanen und Erzählungen entstanden.
Die Komponistin Adriana Hölszky ist eine rigide Künstlerin. Sie macht nicht viel Federlesens mit der Liebe. Hölszkys mittelgroßes, aber schlagkräftig und mit Alphörnern ausstaffiertes Orchester funkte bei der Uraufführung auf den Schwetzinger Festspielen von Anfang an dazwischen. Es signalisiert: Ungleichzeitigkeit, Dissens, Konflikt, Krieg der Geschlechter.
Hölszkys „Der gute Gott von Manhattan“ beruht auf einem Hörspiel aus den späten 50er-Jahren, mit dem Ingeborg Bachmann in teils recht surrealen Szenen eine offensichtlich von Anfang an verstörte Beziehung nachzeichnete. Irgendwo in New York ist Jennifer Jan über den Weg gelaufen. Eine Wahrsagerin und zwei Eichhörnchen als Engel des „guten Gottes“ mischen sich in die Klimax der von ihren Launen und seinem prinzipiellen Beziehungsproblem gekennzeichneten Erörterung, wie schwierig alles „tiefere“ Übereinkommen ist. Da hilft es auch nicht, dass die beiden von einem Hotelzimmer ins nächste umziehen. Immer höher hinaus, in immer höhere Stockwerke.
Auf dem Weg zu solcher Höhe der Gefühle blendet der achtstimmige Chor immer wieder polyphon verdichtete Traumsequenzen von Ingeborg Bachmann ein, die mit der Lichtmetaphorik der Ampeln spielen. Aber da ist kein Wort zu verstehen. Da soll auch nichts Semantisches mehr wahrzunehmen sein, sondern nur mehr „Energie“. Kompromisslos hat Hölszky das Aufeinanderprallen von männlichen und weiblichen Energien in den musikalischen Raum gestellt. Sie hat den sprunghaften Dialog des Paares mit Sprechsingen und schrillem Vokaleinsatz vermessen. Die Bombe, die am Ende hochgeht, scheint da nur logische Folge des Dissens.
Das Falsettieren, das Daniel Gloger als „guter Gott“ und höchste Instanz vorführt, deutet an, was die Komponistin von göttlichen Stimmen hält. Der Regisseur Stephan Kimmig und die Ausstatterin Anja Rabes kontrastierten bei den Schwetzinger Festspielen das Schrille und Groteske mit einer glatt polierten und sterilen „Normalität“: Mit einer Türenfront wie für eine öffentliche Bedürfnisanstalt und einem schnöden Hotelzimmer bebilderten sie, was vielleicht ganz und gar als Hörstück genommen werden sollte.
Mit „El otoño del patriarca“ von Gabriel García Márquez geht es weiter nach unten auf der Landkarte, von New York nach Lateinamerika. Den verschlagenen Künsten und brutalen Trivialitäten der lateinamerikanischen Diktatoren gilt ein spezielles literarisches Genre. Auf Anregung des Bremer Intendanten Klaus Pierwoß wurde Márquez’ „Herbst des Patriarchen“ von Gotthard Kuppel zum Libretto eingedampft. Der römische Komponist Giorgio Battistelli komponierte diese abgeleitete „Literaturoper“.
Der männlichkeitsdampfende Márquez-Roman gefällt sich in barocker Opulenz und entwickelt irrwitzige Züge. Auf der Opernbühne wirkt der bohrend analytische Blick auf den „Patriarchen“ merkwürdig domestiziert: Der Schurke auf der politischen Bühne, der eigentlich längst mausetot sein müsste, sich aber immer wieder erhebt, gewinnt mit Karsten Küsters einen dergestalt sympathischen Zuschnitt, dass man eigentlich gar nicht glauben möchte, dass er aus kaltem Kalkül Rivalen abschlachten lässt oder die Füsilierung von 2.000 Jugendlichen anordnet. Die eher mühsame als erotisch entspannte Erfüllung inzestuöser Wünsche nimmt man dem freundlichen älteren Herrn schon eher ab.
Den Faltenwurf der Geschichte hüllte Battistelli in einen dicken bunten Klangmantel. Melodiös und expressiv fiel der Tonsatz aus, der die Rückblenden auf den „ideellen Gesamtdiktator“ ausstattet, aufschäumt und ausgleiten lässt. Der Ton, in dem es gelegentlich nach Brahms und Verdi-Spurenlese klingt, indem sich sogar der Hodenbruch immer wieder mit einer Sopranpartie zu Wort meldet, etabliert ein Aroma besonderer Art, allerdings ohne offensichtlichen folkloristischen Zitate. Am Ende mag es einem dennoch vorkommen, als wäre man zur Exkursion ins Unterhaus einer verwirrenden Neuen Welt mitgenommen worden, in dem nicht nur andere politische Regeln gelten, sondern auch nicht die mitteleuropäischen ästhetischen Normen. Battistellis für sich allein schon bildmächtiger Orchesterton entschädigte für szenische Schwächen in der Inszenierung von Rosamund Gilmore: passend zum Stoff eine tropisch-schwüle, hitzig-dampfende und stets der Explosion nahe Musik.
Extremer lassen sich die unterschiedlichen Ausrichtungen des neuen Musiktheaters kaum denken als am vergangenen Wochenende erlebbar, im Kontrast zwischen der bewunderungswürdig gelungenen Kammeroper „Mario und der Zauber“ in Stuttgart und dem erratisch funkelnden Projekt „Wozzeck kehrt zurück“, das in Aachen präsentiert wurde. Die Vorgeschichte von Marios tödlichen Schüssen erscheint in konventionell anmutender Dramaturgie und gestützt auf Musik, die Stephen Oliver virtuos an Modellen der „klassischen Moderne“ orientierte. Der experimentelle Charakter rührt von jener vielschichtigen Erzählung Thomas Manns her, von der zynischen Versuchsanordnung des Hypnotiseurs Cipolla sowie der Vergegenwärtigung von Massenmanipulation durch die Inszenierung von Manfred Weiß.
Ganz unter Aspekten der geschärften ästhetischen Gegenwart erfolgte in Aachen der Zugriff auf eine Textvorlage von ähnlich grundsätzlicher Bedeutung: Helmut Oehring näherte sich noch einmal dem Fall des Franz Woyzeck mit einer elaborierten Partitur. In sie flossen auch Briefe Georg Büchners ein, Passagen aus dessen „Jakob Lenz“, aus Theodor Fontanes „Effi Briest“ sowie Bibel- und Luther-Sentenzen. Die neue Musik kreist um Eifersucht und eine daraus resultierende Verzweiflungstat, um Selbstzweifel und Selbsttötungsgedanken, die in „Momentaufnahmen“ aufscheinen. Komponiert wurden verstörte Kommunikation, Ängste und Zwangsvorstellungen: „Es geht hinter mir her.“
Also: Orchester-Erregung, die sich auf rasche, steile Crescendi stützt; externe Verstrickungen via Live-Elektronik; Einsprengsel von Rock- und Popmusik, die mit den trivialen Texten und Melodien des im Zentrum des erhöhten Orchesters agierenden E-Gitarristen Jörg Wilkendorf wohl auf die Lebenswelt der „kleinen Leute“ verweisen will. Am anderen Ende der stilistischen Skala singen eine Sopranistin und zwei Mezzosopranistinnen in extremen Lagen. Ausgiebig zitiert der Chor Madrigale des Fürsten Don Carlo Gesualdo. Drei Gebärdensolisten – das Markenzeichen der szenischen Arbeiten von Oehring – unterstreichen die unbeantworteten Fragen der restringierten Kommunikation.
Der 43-jährige Helmut Oehring, Kind gehörloser Eltern, brachte bereits 2002 in Aachen mit Erfolg „BlauWaldDorf“ zur Uraufführung – eine fragile Musiktheaterarbeit, die Hans Christian Andersens Märchen von der Seejungfrau aktualisierte. Der Berliner Komponist nannte seine zunächst unsystematisch wirkende optisch-akustische Montagearbeit eine „tonschriftliche Momentaufnahme in drei Abzügen oder zwölf Kontakten“. Nicht „Aufzüge“ komponierte Helmut Oehring, sondern „Abzüge“ – und er verweist damit ebenso auf die Sphäre der Fotografie wie mit dem Stichwort der „Zwölf Kontakte“, die den Musiktheaterabend strukturieren: „Obsession“ oder „Ausklang toter Wanderer“ heißen diese Abschnitte, mit denen es um Kontaktstörungen und Sprachlosigkeit geht. Nicht um unmittelbar Verstehbares oder gar Verständnis.
Was Michael Simon an Bildern zuspielte, wirkt teils platt. Zeitweise wird die Videokamera wie im Selbstlauf über der mit Schränken und Tischen vollgestellten Drehbühne losgelassen. Dann scheint die Bilderflut aber auch wieder streng domestiziert nach der Ordnung der vorgegebenen Texte. Oehrings Eigenwilligkeit kann rationale Zweifel schließlich übertönen: Die Musik wirkt wie ein Echolot über Gewässern höchst unterschiedlicher Tiefe.
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