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Archiv-Artikel

Rein und wieder raus

Berliner Kinder sollen seit Generationen das Schiffshebewerk Niederfinow begreifen

Nein, es ist natürlich ungleich komplizierter. Es ist nachgerade geheimnisvoll

Schulklassen pilgern dorthin seit rund siebzig Jahren. Am Ostbahnhof brechen sie in frigider Frühe auf, mit dem Regionalzug bis Eberswalde. Dann hat die Schule einen Bus bestellt, der Kinder und Aufsichtspersonal noch weiter nach Osten bringt, so weit nach Osten, wie sie vielleicht noch niemals waren. Dahinter kommen nur noch feuchte Wiesen und Asien.

Meistens fährt ein technikbegeisterter Vati in BB (beiger Bundjacke) mit, der alles erklären will, weil er als Kind auch schon hierher musste und „die Fakten“ noch einmal im Internet nachgelesen hat. Wenn dann die als Schleusenmeister verkleidete ingenieurtechnische ABM-Kraft das Wort ergreift („Sie befinden sich hier …“), wird der Vati ihr mit altklugen Fragen in den gelernten Vortrag zu fallen suchen, später resignieren und zur Klasse sagen: „Genau, wie ich’s euch erklärt habe!“

Früher hieß das Wandertag. Heute heißt das bestimmt „Event“ oder „Survival Trip“. Aber die Lehrerinnen, die vielleicht noch immer Lehrerinnen heißen, wissen immer noch nicht, was sie mit der Zeit außerhalb des Frontalunterrichts anfangen sollen. Als die Freiheit in den Osten fiel, haben sie, berauscht von den plötzlich aufscheinenden Variablen der Stundenplanung, drei Wandertage zusammengelegt und sind mit den Kindern im Nachtzug nach Paris gereist. Diese Kinder sind heute desillusionierte Mittzwanziger. Paris hat ihnen vorgemacht, dass das Leben schön sein könnte. Die Eltern der Kinder, die heute Wandertag haben, sind arbeitslos oder/und betrunken in Lichtenberg, da muss der Barnim reichen. Ihre Lehrer sind seit 13 Jahren dabei, das zweite Gesellschaftssystem zu überleben. Sie sammeln sich gerade die Neurosen zusammen, mit denen ihre Kollegen im Westen in der vierten Pädagogengeneration ihre Frühberentung erpressen. Dann eben Schiffshebewerk.

Es ist immer dasselbe: Schon in Bernau sind alle Stullen aufgefressen und alle klebrigen Getränke ausgetrunken, und man wühlt die Rucksäcke nach Süßigkeiten durch. Die Mädchen klemmen zu achten kichernd in der Sechserecke, lauter „beste Freundinnen“, und hoffen auf derbe Scherze von den Jungen. Die Lehrerin hat die Gruppenfahrkarte schussbereit und ruft ab und zu monoton „Von der Türe weg!“. So wird es auch 2050 noch sein. Man versäumt nichts.

Das Schiffshebewerk ist das Meisterstück deutscher Ingenieurskunst. Vielleicht nur mit der Wuppertaler Schwebebahn vergleichbar, deren Nimbus allerdings angekratzt ist, seit es vor Jahren Tote gab. Kein Zeppelin, kein Panzerkreuzer, kein U-Boot, keine V 2 und kein Traumschiff kann es mit dem Schiffshebewerk aufnehmen. Auch nicht der legendäre Jenenser Mikrochip des Erich Honecker.

Es ist friedlich wie ein sattes Tier. Es macht Musik, brummt und surrt, knirscht und knackt in einem überraschenden Rhythmus und ist ansonsten wie die Natur so still. Es leistet einfache Arbeit – eben Schiffe heben –, an der sich niemand bereichern kann, bei der man keinen Schweiß vergießt. Es macht niemanden neidisch. Es akzeptiert die geografische Zwangslage – 36 Meter Gefälle. Es ist einfach – du bist doch kein Schiffshebewerkignorant, du kannst es begreifen, es ist gut für dich, erkundige dich nach ihm. Es kostet fast nichts, nicht mehr, als einige 100-Watt-Glühlampen kosten würden: zwei Motoren, nicht stärker als Wartburgmotoren (also nicht einmal VW!), welche die Reibungskräfte der Seile und Gestänge überwinden. Es sieht von allen Seiten sehr groß aus, viel größer, als es ist – „ungeheuer kolossal“. Es ist lieblich umwachsen. Eigentlich ist es ein Witz; kleine Jungen dürfen staunen: Was, das geht? Ja, das geht, dürfen Väter sagen, als hätten sie es unterm Kaiser selbst erbaut: Schwere, dicke, lange Schiffe mit Unfallautos für die Polen beladen oder mit Sand für die Berliner (warum holen wir Sand in Polen?) schwimmen in eine Badewanne rein, werden durch die Schwerkraft der Gegengewichte angehoben – oder abgesenkt – und tuckern wieder raus. So einfach.

Nein, es ist natürlich ungleich komplizierter. Es ist nachgerade geheimnisvoll. Es erheischt Deutungen und Interpretationen und eine kapitelstarke Fachliteratur. Es züchtet Legenden; es erwartet Andacht. Vereine bauen es en miniature nach, um zu „ergründen“, wie es funktioniert. Seit 70 Jahren wird Berliner Kindern erklärt, dass der deutsche Ingenieur hier ein Weltwunder vollbracht hat. Dank dem Kaiser und so weiter.

Ich habe kein einziges Mal meinem Überdruss am Leben nachgegeben und Sonntagmorgen am Berliner Frühstückstisch meiner verbitterten Familie zugerufen: „Leute, wisst ihr was – heute geht’s hinaus zum Schiffshebewerk, und ich erkläre euch alles!“ Davor haben mich meine Kinder bewahrt. Sie haben mir manchmal vorgespielt, wie hurtig sich ihre Schulfreunde in Fahrradkellern und hinter Mülltonnen verstecken, wenn ihre Väter zum Ausflug nach dem Schiffshebewerk blasen.

MATHIAS WEDEL