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Archiv-Artikel

Im Dickicht der Werte

Wenn die Anstandsdebatte kein Ablenkungsmanöver wäre, gäbe es Grund zur Sorge – um ihre Initiatoren

Der Anstand verlangt von den Frauen, ihreAchseln zu enthaarenund ein Kopftuch zu tragen

Fürwahr, das Zotige lässt zögern. Entschuldbar ist die Wiedergabe der angejahrten Miniaturerzählung indes, weil sie, extrem kondensiert, die Hilflosigkeit sommerlicher Anstandsverlautbarungen spiegelt. „Kinder“, appelliert ein Vater an seine Sprösslinge, „nehmt die Finger aus‘m Arsch und sacht der Tante Tach.“

Die durchaus bescheidene Komik des Satzes besteht darin, dass das Bedürfnis der Autoritätsfigur, ihre Zöglinge zum Einhalten der Etikette zu bewegen, durch ihr sprachliches Niveau aufs Krasseste konterkariert wird: Einen ungeschriebenen Sittenkodex gibt es nämlich auch für jene, die gutes Benehmen einklagen wollen. Zu seinen Vorschriften gehört eine unbedingte Glaubwürdigkeit. So ist es fraglich, ob Menschen, die sich im Wahlkampf, sei’s in kurzen Höschen joggend, sei’s in Badeanzügen plantschend fotografieren und diese Aufnahmen medial verbreiten lassen, ein Recht besitzen, in Kleidungsfragen mitzureden.

Wichtiger aber ist das Vermögen des Benimm-Apostels, seine Forderung formvollendet vorzutragen – sprich in einem seriösen Medium und vermittels eines gehobenen Codes. Denn Benehmen ist eine Form der Kommunikation, ein besonders modellierter Teil des großen Zeichensystems der Sprache: Vollkommen deplatziert daher sind vulgäre Ausdrücke zur Bezeichnung jener, die sich besser benehmen sollen. Arschficker, Sackkrauler oder – ganz dasselbe Register – „Sexbomben“, das sind Worte nach denen Kleinwilli früher der Mund gewaschen worden wäre. Mit Kernseife. Und das, vom Standpunkt einer Erziehung zur Disziplin, zu Recht. Heute ist das nicht mehr möglich.

Aber Scherz beiseite: Es ist natürlich albern, dass jemand, der Schwierigkeiten mit der Etikette hat, ihren Verlust bei anderen feststellen und beklagen zu müssen vermeint. Doch lässt die Unangemessenheit von Willi Lemkes Äußerungen – versucht man sie nicht, auf ein Ablenkungsmanöver von den ernsten politischen Problemen des Stadtstaates zu reduzieren – nicht auf die Absenz eines Problems schließen. Es handelt sich um einen gespürten Kultur-Verlust. Ein in der Psyche des Betroffenen stattfindender Untergang des Abendlandes, der sich, wie Kulturstaatsrätin Elisabeth Motschmanns jüngste Presseerklärung bestätigt, auch als Generationen-Problem darstellt.

Letztere hatte kürzlich verlautbaren lassen, vermeintliche „Grundwerte“ wie „Höflichkeit, Kameradschaft“ – jawoll Kameraden! –, „Rücksichtsnahme, Verantwortungsbewusstsein usw.“ – man beachte das für eine Aufzählung angeblicher „Grundwerte“ inadäquate Kürzel – müssten „wieder in den Köpfen und Herzen der Jugendlichen verankert werden“. Zack, rin in die Köppe! Das klingt gewalttätig und beruht auf einem für eine bekennende Protestantin überraschend mechanistischen Menschenbild. Sehr treffend hat es der Soziologe Niklas Luhmann als „Modell der Trivialmaschine“ bezeichnet. Bei diesem werde „Kommunikation als der Input, das richtige Verhalten als Output angesehen“. Wenn der „erste Schritt“ – sprich die Grundwerteverankerung – getan sei, so prophezeit Motschmann, werde „sich das auch im äußeren Erscheinungsbild auswirken.“

Keine Frage: Auf eine empirische Untersuchung, die das angebliche Fehlen jener Werte bestätigt hätte, bezieht sich Frau Motschmann keineswegs. Sie legt ihrer Mitteilung – was weder als kameradschaftlich noch als rücksichtsvoll oder gar als ehrlich bezeichnet werden kann und sich folglich überhaupt nicht ziemt – eine bloße Unterstellung zu Grunde. Sie spürt da so etwas. Sie spürt das Schwinden der Kultur.

Verschwände sie tatsächlich? Eher nicht. Im Gegenteil, Vertreterinnen eines Kulturbegriffs, der auch den Sport mit einschließt, müssten, logisch denkend, davon ausgehen, dass Kultur nahezu ubiquitär ist. Und damit rechnen, dass sie – denn was könnte Kultur sonst – selbst in den entlegensten Winkeln Werte, Verhaltensmuster, Normen geschaffen hat: Die Informationsgesellschaft befolgt die „Netiquette“ im WorldWideWeb, theozentrische Gemeinschaften verfügen über phantasievolle Kleiderordnungen. So gehört es zu den Forderungen, die der ’adab – das heißt auf Arabisch Anstand – den Frauen auferlegt, den Nabel zu verhüllen, die Achseln zu enthaaren und ein Kopftuch zu tragen. Der Bund deutscher Sadomasochisten hingegen empfiehlt, „in einschlägigen Lokalen oder Clubs“ einen „Sub, der in Begleitung eines Tops da ist, erst anzusprechen, nachdem man die Zustimmung des jeweiligen Tops eingeholt hat“.

Das Überangebot an Benimm-Strukturen, das einem Überangebot an Kultur-Zirkeln entspricht, führt zu Frustration bei jenen, die sich in keiner Gruppierung fehlerfrei zu bewegen wissen: Sie merken, dass sie selbst den Anschluss verloren haben. Die nachvollziehbare Folge: Die fremden Werte werden in Misskredit gebracht, ihr Aufkommen als Werteverfall umgedeutet. Denn es ist ja nicht so, dass man, nur weil man so argumentiert, wie ein Vergewaltiger vor Gericht, um die Bauchnabelfreiheit von Schülerinnen zu brandmarken, keine Sublimierungsleistung erbracht hätte.

Doch sie hat sich – schlimm, schlimm – nicht ausgezahlt: Ihr Ziel, die – so Freud – „Einreihung oder Anpassung an eine menschliche Gemeinschaft“ zu bewältigen, wurde verfehlt – weil jene sich und die Werte in ihr verändert haben! Es ist eine sehr private Tragödie. Auf diese – und nur auf diese – verweist das Bekenntnis eines knapp 60-Jährigen, er könne kaum an sich halten, wenn er nackte Kindernäbel sieht. Über den Sittenverfall der Jugend jedoch besagt sie – nichts.

Benno Schirrmeister