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Archiv-Artikel

Der Bazillus der Demokratie

Hongkong sollte Modell für die Wiedervereinigung Taiwans mit China sein. Doch das Prinzip „Ein Land – zwei Systeme“ ist gescheitert. Die Stadt steht vor stürmischen Zeiten

Peking hat Angst vor Instabilität – und schürt dabei selbst den Konflikt, den es fürchtet

Am heutigen siebten Jahrestag der Rückgabe Hongkongs an China wollen in der Sonderverwaltungsregion Umfragen zufolge 200.000 bis 300.000 Menschen demonstrieren. Sie fordern die Direktwahl ihres Regierungschefs und des Stadtparlaments ab 2007/08 und protestieren damit gegen Pekings Blockade demokratischer Reformen in Hongkong.

Peking hatte einseitig die in Aussicht gestellte volle Demokratisierung der Stadt auf unbestimmte Zeit verschoben. Darüber hätten allein die Hongkonger entscheiden sollen, denen 1997 nach dem Prinzip „Ein Land – zwei Systeme“ fünfzig Jahre weitgehende Autonomie und Selbstbestimmung zugesagt worden war. Pekings Interventionen zeigen, dass das Prinzip in entscheidenden Punkten nicht funktioniert. Im Gegenteil: Inzwischen gilt nicht Hongkongs Wiedervereinigung mit China – wie von Peking erhofft – als Modell für Taiwan, sondern Taiwans Demokratisierung wurde für Hongkongs Bevölkerung zum Modell. „Ein Land – zwei Systeme“ ist heute nur noch eine Beruhigungspille für die Hongkonger und die internationale Gemeinschaft.

Für Peking ging es bei dieser Formel immer auch um Taiwan. Hongkong und das kleinere Macau sollten für die aus Sicht Pekings abtrünnige Provinz Taiwan zum attraktiven Modell der Wiedervereinigung werden. Doch je unrealistischer diese Vereinigung ist, desto weniger Grund gibt es für Peking, sich selbst an die Formel zu halten. Es spielt seine Macht und seinen Einfluss in Hongkong immer mehr aus.

Galt Hongkong für China früher als „Gans, die goldene Eier legt“ und die deshalb schon aus Eigeninteresse nicht geschlachtet würde, ist Hongkongs wirtschaftliche Bedeutung für China heute gesunken. Die Wirtschaftsdynamik auf dem Festland ist inzwischen größer als in der Sonderzone, Hongkong erhält daher wirtschaftliche Zugeständnisse. Auch deswegen ist die Volksrepublik weniger geneigt, auf das Geschnatter der Gans zu hören.

Noch ist in Hongkong vieles besser als in China. Es gibt weniger Korruption, mehr Rechtssicherheit und mehr Freiheiten. Doch die Probleme des Prinzips „Ein Land – zwei Systeme“ sind unübersehbar. Die von Deng Xiaoping Anfang der 80er-Jahre entworfene Formel ging von den damaligen Zuständen aus. In Taiwan herrschte noch die vom Festland stammende und per Kriegsrecht regierende Kuomintang. Großbritannien hatte in Hongkong erst minimale Ansätze von Demokratisierung zugelassen. In China, Taiwan, Hongkong und Macau hatten die Regierungen uneingeschränkte Macht und die Bevölkerungen nichts zu sagen. Taiwan, Hongkong und Macau waren längst kapitalistisch, in der Volksrepublik hatte Deng gerade erst entsprechende Losungen („Reich werden ist ruhmvoll“) ausgegeben und Wirtschaftsreformen begonnen.

Inzwischen ist die Volksrepublik kapitalistisch, doch hält die KP weiter an ihrem uneingeschränkten Machtanspruch fest. Dafür ließ sie 1989 Studenten massakrieren, was in Hongkong einen Schock auslöste. Chinas Führung zeigte bisher nicht, wie sie sich politische Reformen vorstellt. Taiwan dagegen hat sich seit Mitte der 80er-Jahre erfolgreich demokratisiert. Seit 2000 regiert die einst verbotene Demokratische Fortschrittspartei, die Taiwans Unabhängigkeit anstrebt.

Auch in Hongkong hat die Demokratie Wurzeln geschlagen, der Druck zu voller Demokratisierung wächst. Vor einem Jahr gingen dort zum Schreck Pekings eine halbe Million Menschen auf die Straße und brachten mit dem größten Protest seit 1989 das auf Druck Chinas geplante Sicherheitsgesetz zu Fall. Die Hongkonger fürchteten um ihre Freiheiten und protestierten gegen ihren von Peking eingesetzten Regierungschef, der nicht ihre Interessen vertritt.

Peking fürchtet, in Hongkong die Kontrolle zu verlieren und hält deshalb an dem von den Briten übernommenen Kolonialsystem fest. Das gibt die Macht konservativen Geschäftsleuten, die früher London und jetzt Peking folgen. Weil künftig nur die Hälfte (bisher ein Drittel) der Sitze des Lokalparlaments in allgemeinen Wahlen vergeben wird, bleiben die dabei siegreichen Parteien der Demokratiebewegung von der Macht ausgeschlossen.

Die Formel „Ein Land – zwei Systeme“ ermöglicht verschiedene Geschwindigkeiten auf dem Weg zum gleichen oder ähnlichen politischen Ziel. Die Formel muss aber dann scheitern, wenn die Richtungen der Entwicklung unterschiedlich sind und Peking blockiert. Heute ist die friedliche Wiedervereinigung von China und Taiwan allenfalls noch auf demokratischer Basis denkbar.

Statt sich aber von Taiwans und Hongkongs Demokratie-Erfahrungen inspirieren zu lassen, droht Peking bei Referendumsplänen in Taiwan mit Krieg und maßt sich die Behauptung an, Hongkong sei nicht reif für die Demokratie. Dabei ist vielmehr Chinas KP politisch nicht reformwillig und duldet keine freien Wahlen in Hongkong, deren Ergebnis sie nicht kontrollieren kann.

Peking traut den Menschen in Hongkong nicht. Die sind sich ihrer Machtlosigkeit bewusst und suchen deshalb weder Konfrontation noch Unabhängigkeit. Sie fordern allein die Einhaltung des Autonomieversprechens. Doch China laviert. So wurden kürzlich in Hongkong sieben Männer verhaftet, von denen sich zwei als chinesische Polizisten im Einsatz ausgaben. Für Hongkong ist jedoch allein die lokale Polizei zuständig. Chinas Behörden verweigerten jede Auskunft. Auch Chinas KP operiert in Hongkong weiter im Untergrund und drückt sich so vor dem demokratischen Wettbewerb mit den lokalen Parteien. Statt dessen werden Bürger bespitzelt und in letzter Zeit erschreckend oft eingeschüchtert.

Noch ist in Hongkong vieles besser als in China. Es gibt weniger Korruption und mehr Freiheiten

Peking verweigert seit Jahren der Demokratiebewegung der Stadt den Dialog, lässt deren Repräsentanten Verräter schimpfen und verwehrt ihnen Verwandtenbesuche auf dem Festland. Umgekehrt melden Hongkonger Reisebüros zum heutigen Demonstrationstag einen 80-prozentigen Rückgang bei den Besuchen chinesischer Touristengruppen, was als mutmaßliche Pekinger Intervention gilt. Offenbar befürchtet China, seine Bürger könnten sich in Hongkong mit dem Bazillus der Demokratie infizieren.

Peking hat vor einer von Hongkong ausgehenden Instabilität Angst, schürt dabei aber selbst den Konflikt, den es fürchtet. Zugleich hat Hongkongs Regierung von Pekings Gnaden immer weniger Glaubwürdigkeit in der Bevölkerung, und ihr Handlungsspielraum schrumpft. Zwar gab es in den letzten zwei Wochen aus Peking gegenüber Hongkong auch versöhnliche Töne. Doch wird sich zeigen, ob diese ernst gemeint sind oder nur den Versuch darstellen, die Demokratiebewegung zu spalten und am heutigen Tag möglichst viele Hongkonger vom Protest abzuhalten. Eins ist sicher: Solange Chinas KP ihre Politik nicht attraktiver für Taiwan macht, wird Hongkong stürmische Zeiten durchleben.

SVEN HANSEN