Die Hölle des Ichs

Ein Roman über verpasste Lebenschancen und die Unmöglichkeit, Versäumnisse nachholen zu können: Jean Echenoz’ „Am Piano“

Bei Sartre war die Sache mit der Hölle noch überschaubar: „Schwefel, Scheiterhaufen, Bratrost … Ach, ein Witz! Kein Rost erforderlich, die Hölle, das sind die andern“, hatte die Figur Garcin in Sartres Theaterstück „Geschlossene Gesellschaft“ festgestellt. Jean Echenoz schreibt keine Theaterstücke, sondern Romane, und es liegt ihm fern, die Dinge auf einen existenzialphilosophischen Begriff bringen zu wollen. Im Gegenteil: In seinem neuesten Buch „Am Piano“ bringt er sie auf gar keinen Begriff mehr, was auch die Sache mit der Hölle komplizierter macht.

Echenoz’ Protagonist Max Delmarc ist Pianist. Gleich auf der ersten Seite des Romans erfährt der Leser, dass Max einerseits noch 22 Tage zu leben hat und andererseits Angst hat. Nur hat die Angst nichts mit dem bevorstehenden Tod zu tun – von dem ahnt vorher keiner etwas. Des Pianisten Angst ist grundlos und gerade darum existenziell: „Obgleich sein Einkommen durchaus akzeptabel war, obgleich er bei einer knappen Million Menschen als berühmt galt und seit zwanzig Jahren jederlei psychologische und chemische Behandlung durchgemacht hatte, verfolgte ihn eine tödliche Angst.“

Vor seinen Konzerten betäubt er die Angst mit Alkohol, die Bühne betritt er nur, wenn sein Assistent Bernie ihm einen unverhofften Schubs gibt. Max hat also Angst. Ansonsten tut sich nicht mehr viel in diesen letzten drei Wochen seines Lebens: Wie in den dreißig Jahren zuvor ist das Aufregendste an seiner Existenz die Erinnerung an die schöne Cellistin Rose, deren Bekanntschaft er seinerzeit im Studium klassisch verpasst und die er seither nicht wiedergesehen hat. Einige Konzerte, Spaziergänge mit Bernie im Pariser Park Monceau, eine Irrfahrt durch die Stadt, weil er in der Metro Rose erkannt zu haben glaubt. Dann ist Max tot, und aus dem vermeintlichen Künstlerroman wird ein satirischer Antikünstlerroman.

Noch nie hat Echenoz die Gattungsparodien, für die er bekannt ist – sein Roman „Ich gehe jetzt“ etwa ist ein lupenreiner Antiabenteuerroman – so weit getrieben wie jetzt in „Am Piano“. Auch nach dem Tod des Künstlers entwickeln sich die Dinge weiter: Das zweite Drittel des Romans spielt in einer fegefeuerartigen Durchgangsstation, in der bürokratischerseits über den Verbleib der frisch Verstorbenen entschieden wird. Zurück ins Leben, lautet in Max’ Fall das Urteil, und es wird umgehend vollstreckt. Keine Möglichkeit, die Dinge zu beeinflussen, findet sich der Expianist und Alkoholiker im dritten und letzten Teil als abstinenter Barkeeper in einer drittklassigen Pariser Absteige wieder.

Schon die beiden vorherigen Stationen seines Pianisten hatte Echenoz mit der Liebe zum scheinbar nebensächlichen Detail ausgemalt: Die gerade noch diesseitige, die sich in einem „populären, lärmigen, grellbunten und insgesamt doch ziemlich ärmlichen, abgewrackten Stadtteil“ abspielte, und die just jenseitig gewordene der komfortablen, klimatisierten und fensterlosen Transitstation mit Doris Day als Krankenschwester und Dean Martin als Zimmerkellner. Als Max jetzt in seinem „schmalen Gemach mit welker Blümchentapete“ strandet, ist abzusehen, dass hier der Teufel im wahrsten Sinne des Wortes im Detail steckt.

Denn schnell wird deutlich, dass die vermeintliche zweite Chance in Wirklichkeit alles andere ist. In diesem schmierigen Ambiente, das das Leben ist, führen Max’ Wege zwar bisweilen zurück in sein altes Viertel, aber dort erkennt ihn außer dem Hund der eleganten Nachbarin keiner mehr. So ist Echenoz’ komisch-trauriger Roman vor allem auch ein Roman über die verpassten Chancen eines Lebens und die Unmöglichkeit, manche Versäumnisse nachzuholen. Denn die Hölle, das sind weniger die anderen als vielmehr man selbst – zumindest, wenn man dazu verdammt ist, bis in alle Ewigkeit man selbst zu bleiben. ANNE KRAUME

Jean Echenoz: „Am Piano“. Roman. Aus dem Französischen von Hinrich Schmidt-Henkel. Berlin Verlag, Berlin 2004, 130 Seiten, 19,90 Euro