Archetypen auf verschlungenen Pfaden

Deutschsprachige Verlage haben ihn bislang geflissentlich übersehen, und doch ist er ein großartiger Fabeldichter und witziger Erzähler: Der US-amerikanische Comiczeichner James Kochalka hat dem Medium etwas von dessen ursprünglicher Unbefangenheit und Natürlichkeit zurückgegeben

James Kochalka hat seinen einfachen Zeichenstil perfektioniert

von MARC DEGENS

James Kochalka ist einer der ichzentriertesten Comicmacher der Gegenwart. Doch anders als bei seinen Kollegen Robert Crumb oder Joe Matt ist das eigene Dasein nicht Gegenstand, sondern meist nur Ausgangspunkt der Bildgeschichten. Die beiden festen Größen in Kochalkas Leben beziehungsweise Comics sind seine Frau Amy und seine Katze Spandy – Kochalka selbst porträtiert sich als Elf (Magic Boy), also als ein Mittelwesen zwischen Mensch und Gott. Er verfügt über außergewöhnliche Fähigkeiten, richtige Superkräfte: Magic Boy kann Raum und Zeit verändern, seinen Körper verlassen und in den Weiten des Universums herumstrolchen. Größtenteils aber verlebt er ein alltägliches Sein wie du und ich. Er arbeitet, spielt Nintendo, schmust mit Spandy und vermisst Amy; er trifft sich mit Freunden, trinkt, redet, muss auf Toilette. Kochalkas Welt ist klein und übersichtlich, voller Liebe und Zärtlichkeit, eine Idylle. Trotzdem bietet sie genug Platz für die tief schürfenden Fragen des Lebens. „Paradise sucks“ heißt bezeichnenderweise eine seiner schönsten frühen Arbeiten.

Die Comics sind schwarzweiß, doch die Bildwesen bunt, lebendig und vielschichtig. Die Menschen, die Tiere, die Pflanzen, die Gegenstände – sie alle fühlen, denken und lieben. Kochalkas Kunst besteht darin, die Welt um ihn herum glaubhaft zum Sprechen zu bringen. Die trotzige Rede eines schmelzenden Schneeballs bietet ihm so ausreichend Gelegenheit, über die Vergänglichkeit des Lebens zu philosophieren. Wenngleich dieses Vorgehen naiv anmutet, sind seine Comics alles andere als töricht.

Besonders eindrucksvoll ist Kochalkas Gabe, Archetypen zu erschaffen, auf wenige Eigenschaften reduzierte Geschöpfe, die in geschickter Konfrontation anschaulich die verschlungene Vielfalt des Daseins abbilden. Am großartigsten ist ihm dies wohl in der Bilderzählung „Monkey vs. Robot“ gelungen, in der ein urwüchsiger, triebgesteuerter Affe einem zivilisierten, rational agierenden Roboter gegenübersteht. Dieses minimale Bühnenpersonal reicht Kochalka schon aus, um auf wenigen Seiten ein dramatisches Welttheater aufzuführen.

James Kochalka ist ein Fabeldichter, obgleich er in seinen Bildgeschichten keine eindeutige Lehre oder Moral vertritt. Die Erzählungen zielen auch nicht auf vorgefertigte Pointen ab, vielmehr schafft der Autor soziale Versuchsanordnungen, modellhafte, von einem hohen Grad an Allgemeinheit gekennzeichnete Situationen, in denen die Protagonisten die Wirklichkeit befragen, nach konkreten Wahrheiten suchen – und sie finden: Liebe, Frieden, Partnerschaft. Die Antworten sind allerdings mitunter auch monströs und schmerzhaft: Furcht, Zorn, Hass. Ein böses Wort, ein hinterhältiger Steinwurf – derartige Verhaltensweisen erweisen sich in einer auf den ersten Blick heilen Welt bisweilen als ebenso unfassbar wie der Anschlag auf die New Yorker Zwillingstürme.

Trotzdem finden viele Kritiker Kochalkas Geschichten einfältig und rührselig – und etliche seine Zeichnungen schlicht, schlecht und stümperhaft. Sicherlich ist die Simplizität des Zeichenstils auch der ungeheuren Produktivität Kochalkas geschuldet. In knapp einem Jahrzehnt hat der 36-Jährige annähernd 50 Comichefte und -bücher geschrieben und gezeichnet, seit 1998 führt er zudem ein tägliches Comicstrip-Tagebuch. Des Weiteren arbeitet Kochalka regelmäßig für den Cartoonsender Nickelodeon, er gestaltet Webseiten, malt Bilder und unterrichtet eine Collegekunstklasse. Ja, und natürlich darf man nicht übersehen, dass er auch noch ein relativ erfolgreicher Rocksänger ist, der im amerikanischen College-Radio Kultstatus genießt – bislang erschienen vier albenlange Tonträger seiner Band James Kochalka Superstar. Dies alles taugt aber nicht als Entschuldigung, vielmehr muss man die Kritiker auf zwei Dinge hinweisen: Einerseits hat sich Kochalka in den letzten Jahren künstlerisch enorm weiterentwickelt und seinen einfachen Zeichenstil auf virtuose und raffinierte Weise perfektioniert, zum anderen ist dieser auch das ideale Gestaltungsmittel für seine freimütigen Geschichten. Denn ebenso wie in der Rockmusik findet Kochalka im Comicmedium die geeignete Ausdrucksweise, sich und seine Gefühle unverstellt darzustellen: Gefühlvoll, aber nicht sentimental; kraftvoll, aber ohne Posen; verspielt, aber nicht manieriert. Auf der Bühne präsentiert sich Kochalka dem Publikum gegen Ende eines Konzertes häufig nackt – in seinen Bildgeschichten gibt sich der Comicmacher Kochalka gewissermaßen ebenfalls diese Blöße, die jedoch an keiner Stelle peinlich oder anrüchig wirkt.

James Kochalka gehört sicherlich zu den interessantesten jungen Comicmachern der Gegenwart. Der vielseitige, in Burlington (Vermont) lebende Künstler ist ein großartiger Fabeldichter und ungemein witziger Erzähler, ziemlich verrückt, aber nie arglos oder übergeschnappt. Er steht an der Spitze einer ganzen Reihe von amerikanischen Comicproduzenten (wie etwa Tom Hart, Brian Ralph, Craig Thompson oder Jay Stephens), die das Medium aus den Säulenhallen der Neunten Kunst entführt und ihm etwas von seiner ursprünglichen Unbefangenheit und Natürlichkeit zurückgegeben haben.

Leider haben die deutschsprachigen Verlage James Kochalka bis heute geflissentlich übersehen, allein eine winzige Kurzgeschichte von ihm erschien kürzlich in einem Superheldenheft. Allen Neugierigen bleibt so nur das Comicfachgeschäft oder der Comicversandladen mit amerikanischen Heften – oder der Gang ins Internet. Die Seite www.americanelf.com bietet zahlreiche Informationen zum Werk James Kochalkas. Hier findet sich auch täglich eine neue Folge seines Striptagebuchs, eine seiner besten Arbeiten – und eine der spannendsten und kurzweiligsten des autobiografischen Comicgenres überhaupt.