„Dieses Wir meinte die Bundesrepublik“

Am 4. Juli 1954 gewann Deutschland in Bern die Fußballweltmeisterschaft. Und damit ein Bewusstsein als Zivilgesellschaft. Der Publizist Arthur Heinrich über das „Wir sind wieder da“-Gefühl und Nationalismus

INTERVIEW STEFAN REINECKE

taz: Der Sieg 1954 ist assoziiert mit dem Satz „Wir sind wieder wer“. Woher kommt er?

Arthur Heinrich: Das ist unklar. Aber er scheint eine nachträgliche Erfindung zu sein. Die Formel 1954 lautete: Wir sind wieder da. Das klingt anders – weniger aggressiv. Ich glaube, es wird dem Ereignis auch eher gerecht.

Aber tausende deutsche Zuschauer haben im Wankdorf-Stadion die erste Strophe der Nationalhymne gesungen, in der Deutschland wieder über alles gehen sollte.

Vorsicht – man muss genau hinschauen. Ich glaube, die erste Strophe wurde aus einem banalen Grund gesungen, nämlich weil die Leute die dritte Strophe, die ja erst seit gut 18 Monaten der offizielle Text war, nicht kannten. Mir scheint es etwas kurzschlüssig, daraus zu folgern, dass dies beweist, dass es bei dem Sieg in Bern um wiedererweckten Nationalismus handelt.

Der DFB-Präsident Peco Bauwens redete später vom „Sieg im Endkampf“. Bundespräsident Heuss distanzierte sich zwar davon – aber der nationale Ton, der Rückgriff auf den 8. Mai 1945, war doch unüberhörbar.

Bei Bauwens liegt die Sache anders. Bauwens war ein Nationalist, es gibt auch keine selbstkritische Bemerkung von ihm zur NS-Zeit. Ich bestreite nicht, dass damals viele Bundesdeutsche die Sache wie Bauwens gesehen haben. Die Bundesdeutschen waren 1954 noch keine überzeugten Demokraten – und die Fußballfans waren natürlich keine revanchistenfreie Zone. Aber man muss auch sehen, dass Bauwens wegen seiner Rede in den Medien scharf kritisiert wurde. Von einem nationalistischen Aufbruch am 4. Juli 1954 kann keine Rede sein.

Der Trainer Sepp Herberger als Führer, die Mannschaft als „verschworene Gemeinschaft“ – ein Begriff, den die Nazis verwendeten –, knüpften diese Bilder nicht an die autoritäre Kollektivideen vor 1945 an?

Jein. Natürlich gab es solche Kontinuitätslinien. Die Sprache in den Medien war stark von militärischen Metaphern geprägt. Aber der 4. Juli 1954 war vor allem Ausdruck eines Wir-Gefühls. Deshalb sagten die Bundesdeutschen damals nicht „Unsere Mannschaft ist Weltmeister“ oder „Deutschland ist Weltmeister“ sondern: „Wir sind Weltmeister.“ Das war so wichtig, weil im entstehenden Wirtschaftswunder die Leute ungeheuer viel gearbeitet haben. Es gab eine Art autistischen Rückzug ins Private, den dieses Ereignis für einen Moment überwand.

Der Sieg von Bern war also kein Symbol eines rückwärts gewandten Nationalismus …

Eindeutig nein.

sondern das erste Symbol der Bundesrepublik?

… vielleicht nicht das erste – aber das 3:2 war ein Zeichen, dass sich die Bundesrepublik in Richtung Zivilgesellschaft entwickelte. Dieses „Wir“ meinte kein untergegangenes Großdeutschland, sondern die Bundesrepublik.

Fußball war also ein Ersatzfeld für kollektive Identifikation – ein Terrain, auf dem es sonst nicht viel gab. Viele deutsche Traditionen waren ja durch die NS-Zeit infiziert.

Ja. Das wurde auch damals so gesehen. Der damalige christdemokratische Bundesinnenminister Gerhard Schröder hat beim Empfang der Mannschaft gesagt, dass die Republik nicht so viele Anlässe hat, um sich zu freuen. Der 4. Juli 1954 ist ein neuer Feiertag, der nichts mit Vergangenheit zu tun hat. Außerdem: Es war eine ausschließlich westdeutsche Mannschaft. Insofern war dies auch ein Zeichen, dass man – gegen die Wiedervereinigungsrhetorik – sich in der Bundesrepublik als westlichem Teilstaat einrichten und auch international eine Rolle spielen konnte. Und zwar auf einem durch und durch zivilen Feld.

Aus der Distanz kann man also sagen, dass Bern ein Zeichen für die entschieden gegenwartsbezogene, „geschichtslose“ Bundesrepublik war?

Ja. Der konservative Historiker Hans Rothfels schrieb, dass die „Männer des 20. Juli 1944 die ‚Ehre des Landes‘ wiederhergestellt haben und nicht Fußballsiege“. Das war der Versuch, Geschichte gegen Sport als identitätsstiftende Kraft zu setzen. Die Vorstellung eines Gemeinwesens, das sich weitgehend ohne Geschichte verstand und stattdessen Fußball vorzog, war für Konservative eine ziemliche Schreckensvorstellung.

Heute, 50 Jahre später, ist der Rückblick auf den 4. Juli 1954 reichlich nostalgieumwölkt. Warum?

Erstmals – was ist daran schlecht? Es ist doch ein positives Zeichen, wenn sich diese Republik den 4. Juli 1954 nimmt, um sich ihrer selbst zu vergewissern. Zweitens waren die Fußballer damals buchstäblich Helden zum Anfassen, die von den Schlachtenbummlern nach dem Spiel vom Platz getragen wurden. Die Heimreise aus der Schweiz war ja ein Triumphzug – die Bahnhöfe waren überfüllt. Das war eine ganz andere Welt als das medienvermittelte Fußballgeschäft heute, das Jungmillionären vom Typ Ballack bestimmen. Auch daher rührt die Nostalgie.