: Abschied von alten Mythen
Wer die Türkei reformieren möchte, muss diesen Staat neu gründen und umfassend modernisieren. Dies ist auch im europäischen Interesse. Daher sollte die EU es fördern
Der Entspannungsprozess zwischen dem türkischen Staat und seinen kurdischen Bürgern hat paradigmatische Bedeutung. In einer Region, in der Konflikte grundsätzlich mit Gewalt einhergehen, ist dieser Prozess einzigartig. Vom Erfolg hängt auch die Zukunft der Türkei innerhalb Europas ab.
Nach der Haftentlassung kurdischer Politiker und der Einführung von kurdischsprachigen Programmen im Staatsfernsehen wird allerdings deutlich, dass allein Gesetzesänderungen und kosmetische Operationen nicht ausreichen werden, um den Frieden in der Türkei langfristig zu sichern. Parallel zu der Liberalisierung der türkischen Kurdenpolitik hat die Nachfolgeorganisation der Kurdischen Arbeiterpartei (PKK) den Waffenstillstand aufgekündigt und will den Kampf gegen den türkischen Staat mit militärischen Mitteln fortsetzen.
Der kurdische Nationalismus ist längst ein Fakt der türkischen Innenpolitik. Ob er unter den Kurden mehrheitsfähig ist, bleibt abzuwarten. Zweifellos hat die auf Gewalt gegen die kurdische Minderheit setzende Politik der letzten Jahrzehnte diesen nationalistischen Widerstand verstärkt und die ethnische Selbstbehauptung mobilisiert. Die Kurden der Türkei sind selbstbewusster geworden, stolz auf ihre Sprachen und Kulturen. Wie wird der türkische Staat, wie wird die türkische Mehrheit mit dieser Herausforderung umgehen? Wird die kulturelle Vielfalt, wie so oft beschworen als Reichtum oder als Bedrohungspotenzial für Fragmentierung und Spaltung gesehen?
Die türkische Regierung hat in den letzten Monaten ein umfassendes Reformprogramm auf den Weg gebracht. Zu Recht wird jetzt die Umsetzung der Reformen in die Alltagspraxis eingefordert. Was aber kaum thematisiert wird, ist die Tatsache, dass all diese Reformen – sollten sie tatsächlich umgesetzt werden – den Charakter des türkischen Staates und somit auch die Fundamente der kemalistischen Republik von Grund auf verändern werden. An die Stelle eines autoritären Staats- und Bürokratieapparates tritt eine zivile Bürgergesellschaft, die von Transparenz und Mitbestimmung getragen wird. Diese Tatsache beunruhigt die türkischen Eliten. Sie sehen die Errungenschaften der Republik, wie zum Beispiel die Trennung von Staat und Religion, in Gefahr. Doch nicht zuletzt geht es um die Kurdenpolitik.
Das Kurdenproblem in der Türkei ist ein fundamentales „kemalistisches“ Problem. Es hat die moderne Türkei von Anfang an begleitet. Doch nach wie vor ist in Istanbul eine offene Diskussion über die Gründungsfehler der kemalistischen Republik ein Tabu. Die türkische Republik trat das Erbe des multinationalen Osmanischen Reiches an, wurde aber nach französischem Vorbild als zentralistischer Staat aufgebaut. Ein autoritäres Regime wollte seine muslimischen Bürger umerziehen und sie für die Moderne tauglich machen. Dabei ging es nicht um eine Reform des islamischen Glaubens, sondern um seine radikale Ausgrenzung aus dem öffentlichen Leben. Ethnisch-kulturelle Minderheiten wie die Kurden mussten sich assimilieren. Wer aufmuckte, wurde verfolgt, auf Sondergerichten wurden zahlreiche Todesurteile verhängt, denen jegliche Rechtsgrundlage fehlte.
Bis heute hat sich der türkische Staat für die Verbrechen, die in seinem Namen verübt wurden, nicht entschuldigt. Es wird nicht einmal eine offene kontroverse Debatte über diese problematische Gründungsphase der türkischen Republik geführt. Stattdessen wurde der Staatsgründer Atatürk zu einem Übermenschen stilisiert. Der Kult um seine Person hat bizarre Formen angenommen, die jede rationale Auseinandersetzung verhindern.
Die Reformen in der Türkei werden nur dann greifen, wenn das irrationale, verklärte Geschichtsbild ersetzt wird durch eine Diskussion der türkischen Gründungsmythen. Denn alle Probleme der heutigen Türkei haben ihre Ursache in den Anfängen der türkischen Republik, als eine Clique um den Staatsgründer Mustafa Kemal fast alle Entscheidungen ohne eine gesellschaftliche Auseinandersetzung im Alleingang getroffen und mit autoritären Mitteln durchgesetzt hat. Der paternalistische Staat, die Einschränkung bürgerlicher Freiheiten, der Meinungs- und Glaubensfreiheit, der krude Nationalismus sind Produkte dessen.
Autoritäre Denkstrukturen werden den Türken von klein auf eingeimpft und sind ihnen inzwischen in Fleisch und Blut übergegangen. Auf einem solchen Fundament weiter aufzubauen, wird dazu führen, das gesamte Gebäude zum Einsturz zu bringen. Dadurch kann nur eine widersprüchliche Gesellschaft entstehen, die auf der einen Seite autoritär strukturiert ist, auf der anderen aber die liberalen Grundsätze der Kopenhagener Kriterien erfüllt. Das kann nicht funktionieren.
Wer die Türkei reformieren will, muss diesen Staat neu gründen. Die türkische Politik verliert viel Zeit mit kosmetischen Operationen an einem schwer kranken Patienten. Was die Stunde erfordert, ist eine zweite Republik, die den Personenkult um Atatürk aufgibt, den Mythos um die erste Republik durch Geschichtswissenschaft ersetzt und nicht die Streitkräfte und das marode politische System fetischisiert, sondern Menschen- und Bürgerrechten huldigt. Das alles scheitert bislang am Widerstand der türkischen Armee und eines Teils der Bürokratie. Doch wenn die Regierung die Reformansätze nicht zu Ende denkt, werden sie im Keim erstickt werden. Nach dem Stillstand in den Neunzigerjahren hat die Türkei keine Zeit mehr zu verlieren.
Leider wirkt die zögerliche europäische Haltung gegenüber der Türkei nicht unbedingt unterstützend für die Reformkräfte. Sie verstärkt den Gegenwind, der ihre Schritte verlangsamt und verunsichert. Dabei wäre eine umfassende Modernisierung des türkischen Staates mit all seinen gesellschaftspolitischen und kulturellen Auswirkungen in höchstem Maße auch im europäischen Interesse. Sollte sich die säkulare türkische Republik nicht mit demokratischen Grundsätzen vereinbaren lassen, wäre das ein fatales Signal an die gesamte islamische Welt. Genau das Gegenteil aber scheint der selbst gestellte Anspruch der türkischen Regierung zu sein: ein klares Bekenntnis zu den Werten der westlichen Demokratie ohne die Leugnung der muslimischen Wurzeln.
All jene in Europa, die der Türkei eine Sonderrolle oder einen Sonderstatus anbieten, glauben nicht an den Erfolg dieses Modells. Sie sehen die Türkei weiterhin als Halbdemokratie, als Dompteur, der den radikalen politischen Islam im Zaum hält, womöglich als Pufferzone zwischen der islamischen Welt und Europa. Diese Konzepte entsprechen längerfristig weder türkischen noch europäischen Interessen. Sie können weder die Türkei noch die Region längerfristig stabilisieren. Solange aber die Türkei ihr Staatssystem nicht grundlegend erneuert, sind die Vorbehalte gegenüber einer Vollmitgliedschaft des Landes in der Europäischen Union verständlich. ZAFER ȘENOCAK