: VEB Radsport gegen Cycling Ich-AG
VON SEBASTIAN MOLL
Sicher, zwischen Fußball-EM und Olympia wird es die härteste Radrundfahrt der Welt in diesem Jahr wohl schwerer haben. Kaum ein globales Medienereignis war 2003 so beachtet wie die Tour de France. Dass der Frankreich-Runde 2004 ein ähnlicher Erfolg beschieden wird, dafür werden zwei Männer sorgen, die sich zwischen Normandie und Côte d’Azur auf über 3.000 Straßenkilometern duellieren. Der eine will die Tour zum sechsten Mal gewinnen. Der andere will auf keinen Fall zum sechsten Mal der zweite Sieger sein – Lance Armstrong und Jan Ullrich.
Die Identifikation der Fans mit den Kombattanten wird durch ihrer Biografien erleichtert. Beide sind geprägt von überwundenen Krisen – Armstrong hat den Krebs überlebt, Ullrich stand, von einem Drogenskandal gebeutelt, noch 2002 vor dem Nichts. Es sind die Krisen, die Stars den Fans so nahe bringen, die physischen Übermenschen werden „menschlich“. Man kann sie bewundern und lieb haben zugleich.
Seltener hingegen werden die beiden Berufsradfahrer als Produkte der politischen Systeme gesehen, denen sie entstammen. Dabei sind beide deutlich durch die Staaten geprägt, in denen sie aufgewachsen sind: hier Armstrong, privater Freund des republikanischen Präsidenten Bush, dort der Junge aus der DDR.
Jan Ullrich wird 1973 in Rostock geboren. 13 Jahre später wird der begabte Sportler an die Kinder und Jugendsportschule (KJS) in Berlin berufen. Er wird in ein Programm eingeloggt, in dem jeder Pedaltritt vorgegeben, das Leben rund um die Uhr und auf Jahre hinaus verplant ist.
Nach dem Sinn dieser Aufgabe jeglicher Individualität muss der junge DDR-Sportler nicht lange suchen. Lag doch der Sinn genau darin. „Die sportliche Leistung“, heißt es in einem Standardwerk der DDR-Sportliteratur, „ist vor allem deshalb ein Ergebnis kollektiven Strebens, weil der Einzelne im Kollektiv und durch das Kollektiv seine Persönlichkeit voll entfalten kann.“
War es das Ziel von Ullrichs früher Sporterziehung, Individualität als Residuum bürgerlicher Verderbtheit zu überwinden, so war es das Ziel von Lance Armstrongs früher Sportlaufbahn, Individualität zu gewinnen. In seinem ersten Buch beschreibt Armstrong Plano, die Kleinstadt in Texas, in der er aufwuchs, als Inbegriff des amerikanischen Vororts – seelenlos, ohne Zentrum, ohne Perspektive. Der einzige Weg, sich in dieser Umgebung aus dem alles umfassenden Mittelmaß zu befreien, so Armstrong, sei der Sport gewesen. Als er mit 13 seinen ersten Triathlon gewann, so erinnert er sich, überwältigte ihn ein bislang ungekanntes Glücksgefühl: „Ich war besser als alle anderen – und dieses Gefühl mochte ich.“ Es war der Rausch der Einzigartigkeit, ein Gefühl, dass er von da an nie mehr missen wollte.
Während Ulrich im VEB Radsport seine Planstelle absaß, war Armstrong von Jugend an eine Ich-AG. Mit 16 gehörte er zur nationalen Spitze im Triathlon und verdiente an Start- und Preisgeldern fast doppelt so viel wie seine allein erziehende Mutter als Sekretärin. Armstrong war Trainer, Manager und Athlet in einem. Er sorgte für das Auskommen der Kleinstfamilie.
So einem dürfte der Schritt in den Profi-Radsport leicht gefallen sein. Könnte man meinen. Das Gegenteil war der Fall. Der junge Armstrong eckte in seinen ersten Profi-Jahren in Europa an, wo er nur konnte. Der europäische Radsport war voller ungeschriebener Gesetze und verlangte die Kenntnis einer diffizilen Etikette. Und der ungestüme Texaner, aufgewachsen ohne Vater, war nicht bereit, geduldig diese Regeln zu lernen. „Meine Cowboy-Manieren kamen nicht besonders gut an“, schreibt er in seiner Autobiografie.
Und so hatte ausgerechnet Jan Ullrich weniger Probleme beim Einstieg in den Profisport. Sich ein- und unterzuordnen, das war er gewohnt. Zumal für Ullrich in den Jahren zwischen dem Fall der Mauer und seinem ersten Profivertrag beim Team Telekom 1995 die vertrauten Strukturen aus der Vorwendezeit weitgehend erhalten blieben. In einer Radsport-WG in Hamburg lebte und trainierte er unter seinem alten Trainer und Pädagogen Peter Becker so, wie einst an der Sportschule. Fast noch perfekter als in der DDR, schwärmt Becker heute, sei dort das Ideal des Kollektivs verwirklicht gewesen.
Derart verinnerlichter Altruismus waren für eine Erstanstellung als Berufsradfahrer eine ideale Empfehlung. Mit der Helferrolle, die jeder Profi zu Beginn seiner Laufbahn übernehmen muss, hatte Ullrich klein Problem. Chef im Team war Bjarne Riis. Ihm zum Tour-Sieg zu verhelfen, verursachte Ullrich 1996 nicht das geringste Kopfzerbrechen. Auch nachdem er 96 mit einer derart überzeugenden Vorstellung Zweiter wurde, dass viele Fachleute ihn schon damals für den eigentlich Stärksten hielten, stellte er seine Helfer-Funktion nicht in Frage. „Die Hackordnung im Team war klar“, schrieb das Radmagazin Tour, „allen Nachfragen zum Trotz. Der Chef hieß Bjarne Riis. Auch für Jan Ullrich, der wie eine tibetanische Gebetsmühle seine Treue zu Riis versicherte.“ Daran änderte sich auch dann nichts, als Ullrich erstmals das gelbe Trikot übernahm.
Erst nach dem Tour-Sieg konnte er der Rolle des Stars nicht mehr entkommen – und damit begannen für Jan Ullrich die Probleme. Wenn er auf den Tour-Sieg zurück blicke, schrieb der Spiegel, schaue er „so furchtsam aus seinem jungenhaften Sommersprossengesicht, als habe er sich damals einen Fluch aufgeladen“.
Lance Armstrong hatte sich unterdessen einen tatsächlichen Fluch aufgeladen. 1996 stellten Ärzte bei ihm Hodenkrebs fest. Auch in dieser Lage verließ sich Armstrong auf seine Unternehmer-Mentalität. Wie besessen wälzte er Lehrbücher und Artikel in Fachzeitschriften. Mit Hilfe dieses Wissens führte er Fachgespräche mit den besten Spezialisten des Landes. Die Ärzte mussten sich regelrecht bei ihm bewerben, und nur wer seine bohrenden Fragen präzise beantworten konnte, kam für die Behandlung in Frage.
Armstrong besiegte den Krebs und rettete das Betriebskapital seiner Ich-AG. Nachdem er 1998 seine körperliche Leistungsfähigkeit wieder erlangt hatte, heuerte er den Ex-Profi Johan Bruyneel für seine Mannschaft US-Postal als Team-Direktor an, einen Mann, dessen unternehmerisches Denken dem von Armstrong in nichts nachsteht. Eiskalt machten Bruyneel und Armstrong eine Bestandsaufnahme der Mannschaft, warfen Balast ab, konkretisierten das Ziel und ordneten alle Prozesse bedingungslos dem Tour-de-France-Sieg unter.
Das gefiel nicht jedem. Der Franzose Jean Cyril Robin, der die Mannschaft verließ, sagte: „Wir waren vorher eine professionelle Mannschaft, aber menschlich. Als Armstrong kam, wurde alles anders. Ich wollte das nicht mehr.“ Kaum einer der alten Mannschaft überlebte unter Bruyneel, nur wer nützlich war und sich unterordnete, durfte bleiben.
Nach seinem ersten Tour-Triumph 1999 war Armstong dort angekommen, wo er schon immer hin wollte: an der Spitze einer Organisation, die sich bedingungslos um ihn dreht. Das Projekt des Duos Mama Armstrong und Klein Lance war es gewesen, dass aus Armstrong etwas wird, dass er den deprimierenden Verhältnissen in Plano, Texas, entkommt. Den Entbehrungen seiner Mutter durch seinen Erfolg Sinn zu geben, war das ganze Streben von Lance Armstrong.
Als Champion hatte er seine Bestimmung gefunden. Jan Ullrich hingegen hatte mit dieser Rolle seine Bestimmung verfehlt. Nach dem strahlenden Sieg des 23-Jährigen 1997 fragte sich die Fachwelt, wer diesen hochbegabten jungen Deutschen jemals schlagen soll. Mehr noch: Der erste deutsche Tour-Sieger füllte das Helden-Vakuum, das Boris Becker hinterlassen hatte. Die Wiederholung des Sieges wurde zur nationalen Sache. Ullrich wurde vereinnahmt: Kraft der 51 Prozent Staatsanteile an der Deutschen Telekom und den Millionen Klein-T-Aktionären glaubten offenbar viele, ein Anrecht auf ein wenig Glanz des gelben Trikots zu haben.
Ullrich behagte das ganz und gar nicht. Wie aus Trotz futterte er sich regelmäßig im Winter so viel Speck an, dass das Trikot im Frühjahr leidlich spannte, und schlampte im Training – als habe er auf kindische Art demonstrieren wollen, dass noch immer er selbst der Herr über seinen Körper und sein Leben ist. Trotzdem wurde er 1998, 2000 und 2001 noch Zweiter bei der Tour.
Doch mit jedem zweiten Platz wuchs die Ungeduld der Fans und seines Arbeitgebers. „Jan muss sich entscheiden, ob er weiter der Star sein oder ganz locker an seinen Sport herangehen will“, wetterte sein zunehmend ungehaltener Mannschaftsdirektor Walter Godefroot.
Doch der Druck verstärkte nur Ullrichs Zerrissenheit. Die perfekt ausgebildete Sieg-Maschine stritt mit dem Heranwachsenden, der mit Mitte 20 sein Leben endlich selbst bestimmen will. Das Resultat waren spätpubertäre Ausbrüche wie die folgenreichen Eskapaden in Freiburger und Münchner Diskotheken, die 2002 zu seiner Entlassung führten. Im Nachhinein möchte man fast glauben, dass diese Ausbrüche Inszenierungen waren; dass es Ullrichs Unterbewusstes auf diese Krise angelegt hatte; darauf, dass endlich keiner mehr etwas von ihm will.
Wenn es so war, dann hat der Befreiungsschlag offenbar funktioniert. Ullrich hat es – von Fans und Sponsoren abgeschrieben – als seinen eigenen Wunsch entdeckt, die Tour zu gewinnen. Auch die Rückkehr in sein altes Team, in dem das berüchtigte „Babysitter-System“ ihm einst die Luft zum Atmen nahm, scheint der neu gewonnen Selbstbestimmtheit nichts mehr anhaben zu können.
Ullrichs Vorbereitung auf die Tour 2004 verlief weniger nach dem Muster der schweren Jahre zwischen 1998 und 2002, als nach dem Vorbild seines Kontrahenten. In diesem Jahr scheint dessen Thron zu wackeln – Armstrong scheint erstmals nicht in Bestform, zudem wirft ihm eine ehemalige Betreuerin in Buchform Doping vor. Ullrich konnte dagegen zuletzt mit einem Sieg bei der Schweiz-Rundfahrt zusätzliches Selbstbewusstsein tanken. Glaubhaft verkündete er danach, wie sehr er sich auf die Schlacht mit Armstrong in Frankreich freue.
Im Jahr 2004 ist Ullrich im Westen angekommen. Der Kampf der Systeme ist vorbei – die Show kann beginnen.