: Ein teurer Teufelskreis
aus New York NICOLA LIEBERT
Stell dir vor, die Rezession ist zu Ende, und keiner merkt’s. Der Konjunkturzyklus habe im November 2001 seinen Tiefpunkt erreicht, und seither gehe es aufwärts. So verkündete es in der vorletzten Woche das National Bureau of Economic Research, eine Vereinigung von namhaften Wirtschaftswissenschaftlern, die als ultimative Autorität in Rezessionsfragen gilt.
Millionen US-Amerikaner dürften sich von dieser Erklärung jedoch schlicht veräppelt fühlen. „Wir feiern den Sieg über die Rezession, während zugleich jeden Monat ein paar hundert tausend Arbeitnehmer entlassen werden“, lästert der Kongressabgeordnete Pete Stark aus Kalifornien. „Es wäre fast lustig, wenn es nicht so traurig wäre.“
Von Aufschwung ist nichts zu spüren, weder für die, die schon arbeitslos sind, noch für die, die es bald zu werden fürchten. Und auch die Arbeitgeber merken offenbar noch nichts von der Besserung und halten sich deswegen sowohl mit Investitionen als auch mit der Einstellung neuer Leute vornehm zurück. Lieber reduzieren sie die Belegschaft, um Kosten zu sparen und auf diese Weise noch Gewinne zu erwirtschaften. In den letzten drei Monaten ist landesweit eine Million Jobs spurlos verschwunden.
Angst, dass man ersetzbar ist
So hat man sich den Aufschwung nicht vorgestellt. Der Wirtschaft geht es scheinbar prächtig. Viele Unternehmen wie zuletzt Microsoft oder Citigroup melden tatsächlich wieder kräftig sprudelnde Gewinne. An der Börse geht es mit den Aktienkursen seit Monaten aufwärts. Die Wachstumsraten des Bruttoinlandsprodukts schwanken seit dem Ende der Rezession im Herbst 2001 zwischen 1,3 Prozent und fünf Prozent. Für das zweite Quartal, dessen Zahlen morgen bekannt gegeben werden, wird ein Wirtschaftswachstum von zwei Prozent erwartet. Danach würde man sich in Deutschland, wo die Wirtschaftsleistung zuletzt rückläufig war, die Finger lecken.
Doch 20 Monate nach dem offiziellen Ende der Rezession verschlimmert sich die Lage auf dem Arbeitsmarkt immer noch weiter. Die Arbeitslosenquote ist im Juni auf 6,4 Prozent gestiegen, den höchsten Stand seit neun Jahren (s. Kasten). Das Wirtschaftswachstum ist nicht hoch genug, um über dem Produktivitätswachstum zu liegen – mit der Folge, dass trotz steigenden Outputs die Zahl der Arbeitskräfte zurückgeht. Nach der letzten Rezession (1990 bis 1991) dauerte es nur ein Jahr, bis die Zahl der Arbeitsplätze wieder zunahm. Diese Zahlen zeigen ein Paradox der US-Wirtschaft: Das Wachstum geht am Volk praktisch komplett vorbei. Stattdessen wächst die Unsicherheit. Diejenigen, die noch Arbeit haben, beißen die Zähne zusammen, erledigen die Arbeit der gekündigten Kollegen mit und hoffen auf Besserung. Eine Umfrage hat letzten Monat ergeben, dass die Hälfte der Arbeitnehmer keinen Urlaub mehr nimmt – „um ja den Chef nicht auf die Idee zu bringen, dass man ersetzbar ist“, wie das einer der Befragten erklärte.
Die wachsende Arbeitslosigkeit ist ein schlechtes Omen für die Wirtschaftsentwicklung in den USA. Denn wenn immer mehr Leute kein Einkommen haben oder sparsam werden, weil sie fürchten, ihren Job zu verlieren, konsumieren sie weniger. Der private Verbrauch aber macht allein zwei Drittel des Bruttoinlandsprodukts der USA aus. Wenn der Konsum einknickt, bricht die ganze Konjunktur weg.
Die Risiken für die Entwicklung der US-Konjunktur bleiben hoch, nicht zuletzt weil das Land noch an einer Art Kater von den Exzessen der Boomjahre leidet. Die Verschuldung der Privathaushalte und vieler Unternehmen ist gigantisch. Angesichts der derzeit extrem niedrigen Zinsen nehmen viele Amerikaner immer noch mehr Schulden auf, mit der Folge, dass sie irgendwann am Ende ihrer Zahlungsfähigkeit angelangt sein könnten – vor allem, wenn die Hypothekenzinsen anziehen.
Nicht krankenversichert
Inzwischen kommt ein anderes Problem dazu: Die Leute verdienen weniger, selbst wenn sie noch Arbeit haben. So mancher Designer oder Programmierer oder Manager aus einer Internetfirma, der noch vor ein paar Jahren keinen Job unter 100.000 Dollar im Jahr angenommen hätte, gibt sich plötzlich auch mit der Hälfte zufrieden. In den ersten drei Monaten des Jahres sank einer Untersuchung des US-Arbeitsministeriums zufolge das inflationsbereinigte Durchschnittsgehalt um 1,5 Prozent.
Nicht nur der Hightechsektor ist betroffen. Arbeiter, deren gut bezahlte Jobs in der Industrie reihenweise den allgegenwärtigen Einsparungen zum Opfer fallen, müssen plötzlich in den kaum abgesicherten Dienstleistungssektor ausweichen, wo sie sich vielleicht nicht einmal die Mitgliedschaft in einer Krankenkasse leisten können. 17 Prozent aller US-Amerikaner sind nicht krankenversichert. Da ist es nur die halbe Freude, wenn Wirtschaftsforscher melden, dass der Dienstleistungssektor wächst. Der Industriesektor jedenfalls schrumpft seit Jahren stetig.
„Ich bin einfach froh, einen Job zu haben“, sagt ein Tankstellenwart, ein ehemaliger Flugzeugmechaniker, der jetzt nicht mehr 19 Dollar die Stunde, sondern nur noch neun Dollar verdient – und damit spricht er stellvertretend für viele. Dass die Rezession zu Ende sein soll, will er nicht glauben. Ganze Belegschaften von Betrieben, die in Konkurs zu gehen drohen, wie etwa American Airlines, lassen sich auf Lohnkürzungen ein, um diesem Schicksal zu entgehen. Bei der Fluglinie verzichteten die Mitarbeiter auf 16 bis 23 Prozent ihres Lohns. Nur die Bezüge der Unternehmensvorstände nahmen 2002 um durchschnittlich 15 Prozent zu.
Wie es weitergeht, ist völlig unklar. Das gibt auch das National Bureau of Economic Research zu. „Dass der Tiefpunkt auf November 2001 festgelegt wurde, bedeutet nicht im Umkehrschluss, dass die konjunkturellen Bedingungen seither günstig waren oder dass die Wirtschaft wieder mit normaler Kapazität arbeitet“, heißt es in der Studie. „In der Tat deuten die neuesten Daten an, dass sich die Beschäftigung keineswegs zu erholen begonnen hat.“ Notenbankchef Alan Greenspan gab sich vorletzte Woche in einer Rede vor dem Kongress trotz allem optimistisch. „Wir glauben, dass wir an einem Wendepunkt angekommen sind“, sagte er, obwohl hinter verbalen Nebelschwaden verborgen blieb, worauf der alte Wirtschaftsguru seine Zuversicht stützt.
Im Juni hatte die US-Zentralbank Fed den Leitzins zum 13. Mal in Folge seit 2001 gekürzt auf nurmehr ein Prozent. Dieser Schritt zeigt die anhaltende Sorge, mit der die Notenbanker die wirtschaftliche Entwicklung sehen. Obwohl Greenspan immer wieder von Anzeichen der Erholung spricht, scheint er sich doch gegen die weiterhin bestehenden Risiken absichern zu wollen. Schon seit längerem gibt die Fed die Einschätzung ab, dass Rezession oder Deflation eine größere Gefahr darstellten als Inflation.
Präsident George W. Bush baut alle seine Hoffnungen auf eine Wiederwahl im nächsten Jahr auf eine Erholung der Wirtschaft. Seinen Vater hat die schwache Konjunktur 1992 den Wahlsieg gekostet. Der Sohn hofft nun auf die Wirkung der im Mai beschlossenen Steuersenkung, die in diesem Monat zum ersten Mal etwas mehr Geld auf die Gehaltskonten vieler US-Bürger spülen wird. Insgesamt sollen die Steuern um 350 Milliarden Dollar über zehn Jahre gesenkt werden, doch Beobachter setzen die wahren Kosten eher bei 800 Milliarden an.
Heikle Steuergeschenke
Das Problem ist nur, dass sich viele Volkswirte nicht sicher sind, ob die Steuergeschenke nicht eine gegenteilige Wirkung entfalten könnten. Die Bank für Internationalen Zahlungsausgleich, die Zentralbank der nationalen Zentralbanken, warnte jüngst, dass die wahnwitzigen Kosten der Steuersenkung das Vertrauen in die öffentlichen Finanzen der USA unterminieren könnten. Bislang sind Investoren aus aller Welt noch willens, ihr Geld in den USA anzulegen, doch wenn die öffentlichen Schulden ausufern, könnte sich das ändern. Dies umso mehr, wenn die Konjunktur nicht, wie erwartet, anziehen sollte.
Und dies ist durchaus denkbar. Denn die hohe Kreditaufnahme des Staates, um das Haushaltsdefizit von 455 Milliarden Dollar allein in diesem Jahr zu finanzieren, dürfte nach dem Gesetz von Angebot und Nachfrage die auf den Kapitalmärkten verlangten Zinsen in die Höhe treiben. Das wiederum macht Investitionen ebenso wie den privaten Konsum auf Pump teurer und damit eine wirtschaftliche Erholung unwahrscheinlicher. Ein teurer Teufelskreis.