: Welke Blumen unterm Eis
„Hut-Imker, Nachtwandler, Privatkarthograph“: Hartmut Stockters Grönland-Tagebuch sowie diverse „Erfindungen“ im Künstlerhaus FRISE
von Petra Schellen
Ach, wenn man sich doch wie ein Faultier durch die Wälder hangeln könnte! Unbelastet von Freund und Feind, frei von Existenzangst und jener beklemmenden Wertung, die dem possierlichen Tier immer noch den Ruch der Faulheit angedeihen lässt. Dabei wartet es doch nur, wartet und wartet: auf das Leben, auf Nahrung, auf Ruhe – und produziert sie doch im gleichen Moment selbst.
Genau jene Sehnsucht nach Ruhe als Daseinsprinzip muss den in Wilhelmshaven geborenen Künstler und „Privatkarthographen“ Hartmut Stockter umgetrieben haben; hätte er sonst eine „Faultier-Maschine“ in seine aktuelle Ausstellung im Künstlerhaus FRISE integriert?
Der Bewegungsspielraum sei eher klein, hat er im kommentierenden Text zugegeben; auch sei unklar, wie weit des Faultiers Fortbewegungs-Manier auf europäische Wälder übertragbar sei. Und allzu viel Vertrauen mag man in der Tat nicht in jene Krankenbahren-artige Konstruktion setzen, die zwischen Äste gehängt wurde und mit Hilfe von Fahrrad-Bremsgriffen höhenverstellbar ist. Denn wehe, man versuchte, auf der Bahre liegend, selbige in einem anderen Ast festzuhaken; kaum wohl überlebte man dies, zumal, wenn unten Skorpione und Nattern lauerten. Eine letztlich wenig praktikable Konstruktion – aber das macht nichts, dafür ist der Urheber ja Künstler und nicht Ingenieur ...
Auch das „Allsichtgerät“, das mittels Röhren und Spiegel einen 360-Grad-Blick ohne Wendung des Kopfes erlauben soll, funktioniert nicht so recht. Und der „Amphibien-Schlitten“, den Stockter in sein Grönland-Tagebuch gemalt hat? Man bezweifelt, dass man es sonderlich schätzen würde, bäuchlings durchs ewige Eis zu robben – aber darauf kommt es auch gar nicht an: Wie das biogasbetriebene Gewächshaus auf der eisigen Müllhalde dienen all diese Erfindungen eher dazu, sich der Natur – etwa der grönländischen, die Stockter 2003 ein halbes Jahr lang per DAAD-Stipendium erkundete – zu nähern.
Ironisch gerieren sich auch die Texte seines großformatigen, auf den Rücken schnallbaren Grönland-Tagebuchs, das mit sorgsam getuschten Schriftzügen und Aquarellen gefüllt ist. Akribisch hat der Künstler darin Temperatur, Schnee- und Eisdicke sowie das Verkehrsaufkommen im Küstenstädtchen Upernavik notiert, ein bisschen jenen altväterlichen Stil von Lexika des 19. Jahrhunderts kopierend, dessen Süffisanz den Blick auf das Exoticum abwechselnd verstellt und schärft. „Aus gegebenem Anlass“ habe er, das beteuert er in seinem Vorwort, „weitere Reisen“ unternommen. „Die Klagen von Freunden über die heimatliche Einöde machen den Ausflügler neugierig auf die Verhältnisse an Orten, die gemeinhin als außerordentlich entlegen gelten.“
Zur Vorbereitung diente Stockter ein Studium der Eskimologie in Kopenhagen, wo er auch derzeit lebt. Als halb-dokumentarischer, halb-subjektiver Kartograph entpuppt sich Stockter in seinem Tagebuch, das winzigste Themen aufnimmt, jedes Gespräch mit Walfängern sowie die Beschaffenheit des Schnees notiert; äußere Ereignislosigkeit, provoziert durch die lähmende Kälte, schärft die Sinne. „Natürlich ist die Ereignislosigkeit mancher Tage Einbildung ... Man weiß um die unzähligen Dramen, die sich den Sinnen entziehen, die sich hinter fremden Häuserwänden am Rande der Stadt, in fernen Städten, fernen Ländern abspielen. ... Gerade der Schein der Ereignislosigkeit lässt jedoch bestimmte Erlebnisse wie den Fund sehr langer Eiszapfen an einem Hausdach und den abendlichen Genuss gerösteter Schnitten ... erst zu einem Funken des überwältigenden Weltgeschehens werden.“
Wie hinter Milchglas lässt sich die Verfassung des Künstlers erahnen; der Versuch der Brechung gelingt nicht ganz, ist seinerseits gebrochen, und niemand weiß, ob dahinter nicht echte Verzweiflung lagert. Doch Stockter entscheidet sich nicht. Er bleibt fern, auch wenn er in einem kurzen Film grönländische subkulturelle Bands porträtiert, das Innenleben der Häuser optisch gegen die vereiste Landschaft setzt; unklar bleibt, ob nur er oder auch die Protagonisten seines Films Musik als einzige Rettung vor der totalen Erstarrung empfinden. „Fehlt euch hier nichts?“ hat er die Jugendlichen gefragt. Ja, schon, aber im Vergleich zu Thule sei Upernarvik doch fast eine Großstadt, antworten die: weise, genügsam oder zynisch?
Stockter lässt es offen und bleibt, wenn sich rockiger Sound mit Eiswüsten-Optik verbindet, deutlich Fremdling angesichts der Lebensform einer fremden Spezies. Und eigentlich ist es egal, ob der selbst ernannte Soziologe und Naturforscher Menschen oder Pflanzen in einen Film gießt oder – gepressten Blumen gleich – mit der Akribie einer Maria Sibylle Merian in sein Tagebuch malt: „Unter dem Schnee verbergen sich die welken Blumen des Vorjahres“, schreibt Stockter, zeichnet die empfindlichen Winzlinge auf riesig weiße Seiten und entwirft gleich einen „Blumendetektor“, von dem allerdings noch unklar sei, „wie ein solches Gerät zu konstruieren wäre“. Eine Parabel auf die ewige Suche nach Glück, die oft doch nur Verwelktes zutage fördert? Oder ist dies wieder nur ein Spiel Stockters, der sein Fremdsein so deutlich inszeniert, dass man dahinter fast schon echte Ehrfurcht wittert?
Do–Sa 16–18, So 14–18 Uhr, FRISE, Arnoldstraße 26-30; bis 11.7.