: Die Vorliebe für verdrehte Plattentitel
Vielleicht stirbt in diesem verregneten, kalten Sommer endlich die Open-Air-Idee: Mit kurzen Haaren trat Alanis Morissette am Freitagabend beim Museumsinsel-Festival auf. Sie sah damit jünger aus, wirkte aber trotzdem älter
Sonnige Gemüter haben diese Alanis-Morissette-Fans. Sie stehen stundenlang auf dem Museumsinsel-Areal, hören sich geduldig die nicht angekündigte Vorband an und warten. Und wenn es dann wieder losschüttet, ziehen sie sich einfach Kapuzen über, lachen, lehnen sich in signalgelber Regenhaut oder zartblauem Plastiküberhang an den nassen Partner. Die vielen Freundinnenduos, Trios und Quartette halten unter den Schirmen fest zusammen, zwei ganz Innovative halten sogar einen so genannten Flickerlteppich, 30 mal 90, über die Köpfe. Nur tapfer aushalten und die gute Laune nicht verlieren.
Die grüne Domkuppel ist ganz in milchiges Licht getaucht, dahinter scheinen die getönten Scheiben des früheren Palastes der Republik ferne Sonnenstrahlen zu spiegeln, und tatsächlich bricht der Himmel hinter der Domkuppel auf, und es wird heller. Es wäre fast ein sehr schöner Moment gewesen, würden nicht zwei überdrehte Zwanzigjährige ununterbrochen beschwörerisch „So-nä“, „So-nä“, „Komm So-nä“ skandieren. Dann regnet es aber wieder stärker, und man wartet weiter auf dem nur zu einem Drittel gefüllten Platz und beschließt: nie mehr Open Air. Immer wieder branden Applaus und Jubelschreie im nassen Publikum auf, aber es sind da oben nur zwei fürsorgliche Putzmänner, die den Bühnenboden trocknen.
Und dann endlich kommt Alanis Morissette mit adretter Kurzhaarfrisur und ganz in Rot: Hose, asymmetrisches T-Shirt, Lippenstift, fingerlose Lederhandschuhe. Da steht sie leibhaftig, und man kann sich nun fragen, was eigentlich dran ist an der kanadischen Sängerin mit der Vorliebe für verdrehte Plattentitel. Ihr Album „Jagged little Pill“ wurde immerhin 28 Millionen Mal verkauft, vier Grammys erhielt Morissette 1996 für die CD, der Nachfolger „Under Rug Swept“ lief auch ganz gut, ebenso „Supposed Former Infatuation Junkie“.
Zu Zeiten ihres größten Erfolges, 1995 mit „Ironic“, konnte man Alanis Morissette noch irgendwie schätzen. In dem ganzen Tross der räudigen Alternative-Männer-Bands, die die Charts bevölkerten, war es durchaus angenehm, eine 19-jährige Frau zu sehen, die nicht ganz hohl schien, Gitarre spielte, selbst die Songs schrieb. Auch wenn sie damals schon nervte.
Noch heute übt Alanis noch gerne Protest mit sperrigen Songs. Ihre klare, feste Stimme jagt dann gehetzt durch die Strophen und jodelt sich anklagend in die nächste Oktave hoch. Es geht um widersprüchliche Emotionen, schwierige Beziehungen, Geschlechterverhältnisse-Konflikte, Beziehungsleid-Konflikte, in die auch Gesellschaftsleid-konflikte mit einfließen können.
Ein Alanis-Morissette-Lied beginnt meistens nachdenklich introvertiert und mündet in einen expressiven Ausbruch. Sie hatte aber auch ein schweres Leben, mit 16 der Umzug von Toronto nach L. A, die langen Haare, dann 1996 musste sie, überfordert vom eigenen Erfolg, die Welt samt Indien als Rucksacktouristin bereisen. Gut, dass sie sich endlich von ihren absurd langen Haaren getrennt hat. Seltsamerweise sieht sie nun jünger aus, wirkt aber älter. Das Ungestüme, überambitioniert Energievolle der früheren Jahre ist nun einer Damenhaftigkeit gewichen.
Nur an der Stehmundharmonika findet sie zur alten Veitstanz-Performance zurück. Alanis singt hauptsächlich Stücke ihres aktuellen Albums „So Called Chaos“, später dann auch die alten Hits: „Ironic“, „Thank You“, „You Oughta Kow“. Dort, wo sich die Wege auf dem leeren Platz kreuzen, stehen einige Pärchen im Regen und knutschen ostentativ, damit sie sich dann später bei dem Lied an den Kuss erinnern können und umgekehrt. Es hat alles seine Ökonomie.
Die Wut steht nicht mehr so stark im Vordergrund, heißt es in den Musikmagazinen über Morissettes neue Platte. Ihre Lieder hören sich alle gleich an, aber vielleicht liegt das auch daran, dass es jetzt dunkel wird und man zu frieren anfängt. Vielleicht stirbt in diesem Sommer endlich die Open-Air-Idee.
CHRISTIANE RÖSINGER