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Archiv-Artikel

Es ist nicht leicht mit Herrn Focke

Als Jugendlicher wurde Wolfgang Focke in evangelischen Kinderheimen zur Arbeit gezwungen, verprügelt und sexuell missbraucht. Jetzt kämpft der Rentner für eine Entschädigung

DIE POLITISCHE DISKUSSION

Der Beschluss: Einstimmig und damit in seltener Einmütigkeit hat der Deutsche Bundestag im Dezember beschlossen, einen runden Tisch einzurichten, an dem die Gräueltaten, die in der westdeutschen Nachkriegszeit an Heimkindern verübt wurden, aufgearbeitet werden sollen. Ein erster Termin für den runden Tisch steht zwar noch nicht fest, ein Streit über die Details ist trotzdem schon entbrannt. Die Diskussion: Bundesfamilienministerin Ursula von der Leyen (CDU) hatte in einem inoffiziellen Brief an den ehemaligen Leiter der Jugend- und Familienministerkonferenz der Länder, Jürgen Zöllner, geschrieben, „die Einrichtung eines Nationalen Entschädigungsfonds“ werde „nicht angestrebt“. Genau darum geht es aber – unter anderem – für die ehemaligen Heimkinder. Darüber hinaus wollte das Ministerium den Deutschen Verein für öffentliche und private Fürsorge mit der Organisation des runden Tischs betrauen. Auch das ist für die Opfer untragbar: In dem Dachverband sind ebenjene kirchlichen Organisationen zusammengeschlossen, die die überwiegende Zahl der Kinderheime betrieben. Mittlerweile hat das Ministerium Zugeständnisse gemacht: Man wolle die Verhandlungen am runden Tisch ergebnisoffen führen. Die Einrichtung eines Entschädigungsfonds liegt damit wieder im Bereich des Möglichen. Auch für die Organisation des runden Tisches sind mittlerweile andere Verbände im Gespräch. Die Teilnehmer: Die ehemalige Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages, Antje Vollmer (Grüne), soll den runden Tisch moderieren. Keine leichte Aufgabe, denn sie muss die Interessen vieler Parteien zu einer einvernehmlichen Lösung bündeln. Mit am Tisch sollen Vertreter von Bund und Ländern, die ehemaligen Heimbetreiber, also Diakonisches Werk und Caritas, unabhängige Wissenschaftler und der Verein ehemaliger Heimkinder sitzen. Dazu kommt noch Wolfgang Focke. Unabhängig vom Betroffenenverein hatte er eine eigene Petition eingereicht. Er will am runden Tisch mitreden, wenn über sein Schicksal verhandelt wird. MAHA

VON MARLENE HALSER

Wolfgang Focke hat nicht viel Zeit. Knapp sieben Stunden verbringt er in Berlin. Vier davon sind schon verstrichen. Seine Unterredung mit der Politikerin hat er bereits hinter sich. Heute Morgen um kurz vor acht ist er im niedersächsischem Bad Pyrmont in den Zug gestiegen. Hat seine grüne Pappmappe mit den gesammelten Akten in die Tragetasche gepackt und ist losgefahren. 103 Euro hat er für die Fahrkarte nach Berlin bezahlt, das ist ein Drittel seiner Rente. Trotzdem hat er sich auf den Weg gemacht. Morgens hin, abends zurück. Schließlich geht es in der Hauptstadt um ihn. Um das Leben des Rentners Wolfgang Focke, der einst ein Heimkind war. Ein Leben, das symptomatisch ist für das Schicksal tausender Jugendlicher, die in einem Erziehungsheim aufgewachsen sind. Damals im Westdeutschland der Nachkriegszeit.

Klamm ist es und ein wenig neblig im Regierungsviertel von Berlin. Als Wolfgang Focke zwischen die dicken Säulen vor dem Eingang des Abgeordnetenhauses tritt, schimpft er: „Scheiße war das da drin“. Er will schleunigst weg. Das Gespräch mit Antje Vollmer, der Grünen-Politikerin und ehemaligen Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages, hat ihn nicht glücklich gemacht. „Klipp und klar“ hatte er wissen wollen, was ehemalige Heimkinder wie er in Berlin erreichen können. Eine befriedigende Antwort bekam er nicht. Schuld daran ist nicht Antje Vollmer, sondern das demokratische System, in dem Entscheidungen von Zustimmung abhängen und deshalb lange Zeit brauchen. Wolfgang Focke dauert das zu lange, denn er hat es eilig. Der 62-Jährige will die letzten Jahre seines Lebens nicht in Armut verbringen. Deshalb nennt er beim Namen, wem er die Schuld an seinem Leben gibt: Das evangelische Diakonische Werk, das vier der fünf Kinderheime betrieb, in die man ihn brachte. Das Landesjugendamt Münster, unter dessen Aufsicht eine weitere seiner Leidensstationen stand. Und den Staat, weil der ihm heute keine Rente für seine damals geleistete Arbeit zahlt. Wolfgang Focke fordert Wiedergutmachung: Für die schwere körperliche Arbeit, die er in den Heimen leisten musste und für die er nie bezahlt wurde. Für die Schläge und die drakonischen Strafen, die er vom kirchlichen Heimpersonal bekam. Und für die sexuellen Übergriffe der älteren Zöglinge und des Diakons, die er schutzlos über sich ergehen lassen musste, ohne jemanden um Hilfe bitten zu können.

Ein runder Tisch mit Vertretern aus Politik und Wissenschaft, den Organisationen, die die Heime betrieben, und Betroffenen soll bald klären, was Wolfgang Focke wirklich zusteht. Dort soll das Gemisch aus Interessen der Opfer und Heimverwalter, des Bundes und der Länder entwirrt werden. Eine Ahnung davon, wie viel Zeit und Worte dieses Verfahren kosten könnte, hat Wolfgang Focke, der Ungeduldige, heute schon bekommen. Viel geredet habe man, viel zu viel für Wolfgang Fockes Geschmack. „Ich will Taten sehen“, sagt er und stapft über den knirschenden Rollsplitt.

In einem Café auf dem Weg zwischen dem Abgeordnetenhaus und dem Berliner Hauptbahnhof wärmt sich Wolfgang Focke wenig später die Hände an einer Tasse schwarzen Kaffee: „Schwarz wie die Seele“, scherzt er und grinst so breit, dass von seinen Augen nur schmale Striche übrig bleiben. Scherze macht er an diesem Nachmittag viele. Er nennt das „sein zweites Leben“: „Damit niemand sieht, wie es wirklich in mir aussieht.“

Aufgeben will Wolfgang Focke nicht, „sie müssen dafür bezahlen“

In seinem ersten Leben gab es für Wolfgang Focke nichts zu lachen: Geboren wurde er 1946 im nordrheinwestfälischen Lage-Lippe. Als uneheliches Kind von einem britischen Besatzer schickt ihn seine Mutter mit drei Jahren zum ersten Mal ins Heim. Über seinen leiblichen Vater weiß er nichts. Mit sieben darf er wieder nach Hause. Seine Mutter hat inzwischen geheiratet. Nach einigen Jahren schlägt ihn der Stiefvater krankenhausreif. Seine Großmutter informiert das Jugendamt. Ende der Fünfzigerjahre kommt Wolfgang Focke wieder ins Heim. Da ist er dreizehn. Die Tortur beginnt: „Die haben mich eingesperrt und geschlagen, gequält und missbraucht“, sagt Focke. Er erzählt fließend, muss nicht nachdenken. Er hat sie detailgenau verinnerlicht, seine Geschichte, so oft hat er sie schon erzählt. Das muss er auch, denn Schreiben und Lesen hat er im Heim trotz Schule nicht gelernt.

Zwischen zehn und zwölf Stunden täglich muss er während seiner Heimzeit arbeiten. Zuerst auf einem anstaltseigenen Bauernhof, später verleihen ihn die Heime an eine Fleischfabrik. Dort schrubbt er das Blut der geschlachteten Tiere von den Wänden der Tötungsbuchten. Später kommt er wieder zu einem Bauern, arbeitet auf dem Feld und im Steinbruch. Es folgen eine Margarinefabrik, die Hauhaltsgerätefirma Miele und die Lampenfabrik Hella, wo er am Fließband die Heckleuchten für den VW-Käfer montiert. Lohn bekommt er keinen. Nie. Dass die Heimbetreiber an ihm verdienten, kann Focke nur vermuten. „Immer wieder bin ich abgehauen“, erinnert sich Focke. „Wenn sie mich dann aufgegriffen haben, gab’s wieder Schläge, und ich kam in die Besinnungszelle.“ Das bedeutete Einzelhaft. Statt des üblichen Essens gab es Muckefuck und Brot.

Am schlimmsten aber waren für Wolfang Focke die intimen Übergriffe. Sowohl die älteren Jungs als auch das Personal haben ihn sexuell missbraucht. Immer wieder. Wenn er davon berichtet, muss er langsam sprechen, sonst kommen ihm die Tränen. „Wenn dir ein Diakon an der Pfeife rumspielt, dann steht sie. So einfach ist das“, sagt er. „Hinterher kommt das schlechte Gewissen, weil man das nicht wollte.“ Focke nimmt einen großen Schluck von seinem Kaffee. „C’est la vie“, sagt er, „so ist das Leben.“

Die Taten sollen als Menschenrechtsver- letzungen anerkannt werden

1964 wird Wolfgang Focke volljährig. Die Heimzeit ist vorbei. Seine Leiden sind es nicht. Bei der letzten Flucht aus dem Erziehungsheim stiehlt er ein Fahrrad und ein Moped. Obwohl er bis dahin noch keine Vorstrafen hat, verurteilt ihn der Richter zu zwei Jahren und neun Monaten Haft ohne Bewährung. Wolfgang Focke hallt die Stimme des Staatsanwalts bei der Beantragung des Strafmaßes noch heute im Ohr: „Er hat sich die langen Jahre im Heim nicht zur Warnung dienen lassen“, sagte dieser. „Deshalb muss er die volle Härte des Gesetzes spüren.“ Kurz darauf fällt die Gefängnistür hinter ihm ins Schloss. Was folgt, ist eine Spirale aus Verbrechen und Sanktionen. Einen richtigen Beruf hat er nie gelernt. Immer wieder wird Wolfgang Focke entlassen, immer wieder begeht er Straftaten, immer wieder wird er verurteilt. Mit jeder Verhandlung werden die Strafen härter. Er stiehlt und betrügt. Anfang der Siebziger verkauft er seinen Körper als Stricher. Wolfgang Focke ist 25 und lebt mittlerweile in Kiel. Dann gibt ihm ein Bekannter den Tipp: „Besorg doch den Typen lieber ein Mädchen. Damit kannst du viel mehr verdienen.“ Wolfgang Focke wird Zuhälter. Später betrügt er einsame Damen als Heiratsschwindler um ihr Geld. Mit 41 kommt er zum letzten Mal aus dem Knast. Sein Leben in Freiheit, es währt erst gute zwanzig Jahre. Trotzdem sagt Wolfgang Focke heute: „Ich bin nicht kriminell veranlagt.“ Er schlägt mit der flachen Hand auf den Tisch. „Diese Lumpen haben mich zum Verbrecher gemacht, und es wird Zeit, dass sie dafür bezahlen.“

In der grüne Mappe hat er alle Akten gesammelt, die es über ihn gibt. Sie zu bekommen war nicht leicht. Die Täter von damals werden nicht gern an ihre Taten erinnert. Aber Wolfgang Focke ist hartnäckig. Er setzt die Lesebrille auf und blättert in den Seiten. Das Lesen hat er in den Jahren nach der Haft noch gelernt. Schreiben kann er heute noch nicht. Er zieht mehrere Blätter aus der Mappe hervor. Ein Anwalt hat darauf seine Forderungen aufgelistet: 21.532,51 Euro will Wolfgang Focke vom Staat als Lohn für seine als Jugendlicher geleistete Arbeit. Auf eine Entschuldigung legt er keinen Wert. „Ich habe meinen Körper hingehalten, und ich will dafür bezahlt werden.“ Immer wieder sagt er sein Mantra an diesem Nachmittag: „Sie müssen bezahlen.“ Aufgeben will er nicht. „Erst wenn der da oben mich abberuft.“ Bei der geplanten Gesprächsrunde will Focke erreichen, dass die Taten seiner Peiniger als Menschenrechtsverletzungen anerkannt werden. Er hofft, dass auf diese Weise die Verjährungsfrist für einen Anspruch auf Schadenersatz entfällt. Für dieses Ziel nimmt er viel auf sich. Und er nutzt die Medien: Schon oft hat er seine Geschichte in den letzten drei Jahren öffentlich erzählt.

Für Wolfgang Focke geht der Tag in Berlin zu Ende. Er hat sich in Rage geredet und doch nichts erreicht. Heute nicht. Unbequem will er bleiben, das hat er sich vorgenommen. „Es ist nicht leicht mit dem Herrn Focke“, sagt er und lächelt kurz. Dann eilt er zum Zug.