: „Wir passen uns der Situation an“
Was Kubaner und leere Zahnpastatuben gemein haben: Ein Gespräch mit dem kubanischen Künstler René Francisco überKunst in den Zeiten der Mangelwirtschaft, Philosophie in der Zahnpastatube und die Nachteile der Überflussgesellschaft
von BARBARA BOLLWAHN
taz: René Francisco, seit Jahren verwenden Sie für Ihre Objekte Materialien, die es in Kuba nicht oder nur schwer gibt. Ist die Mangelwirtschaft stimulierend?
René Francisco: Damit geben die kubanischen Künstler ihre Umgebung wieder. Denn alle haben mit diesem Problem zu tun. Wir denken zwar darüber hinaus. Aber wir müssen ja arbeiten. Also beginnt man, Dinge zu recyceln und zu benutzen, die es gibt. Das kann eine gute Erfahrung sein, denn man hat nicht nur einen Stil. Weil es keine Regularität bei den Materialien gibt, muss man mit dem arbeiten, was man findet – und das, was man findet, sind immer andere Dinge. Dieses Provisorische ist interessant.
Können Sie alles für Ihre Kunst verwenden?
Alles. Das können Autoreifen sein, Rohre, Holz oder Toilettenpapier. Es gibt einige Materialien, zu denen ich besondere Affinität verspüre, speziell Zahnpastatuben. Mir gefällt das Aluminium und dessen silberne Farbe. Seit 1998 arbeite ich mit Zahnpastatuben. Jeder benutzt sie, jeder kann sich darin wiedererkennen. Einmal habe ich eine Plastik aus 2.000 Tuben gemacht. Das sind 2.000 Familien, die sie benutzt haben! Das ist wie ein kollektives Material.
Woher bekommen Sie die Tuben?
Von meinen Nachbarn, von meiner Mutter, von Freunden. Jeder Kubaner bekommt eine Tube pro Monat. Nachbarn und Freunde sammeln sie über Monate hinweg und geben sie mir dann. Es ist eine sehr kommunikative Art der Materialbeschaffung. Ich habe auch Zahnpastatuben von Freunden aus Deutschland bekommen. Es gibt in Kuba Rohstofflager, wo Säcke voller leerer Zahnpastatuben gelagert werden. Auf dem Schwarzmarkt kaufe ich sie billig. Offiziell werden sie nicht verkauft. Ich säubere sie, und so bekommt das tote Material neues Leben.
Können Sie sich überhaupt noch die Zähne putzen, ohne an Ihre Arbeit zu denken?
Das lässt sich nicht vermeiden. Außerdem sind Tuben sehr interessant. Sie haben zu tun mit leichter Formbarkeit. Das charakterisiert auch die Kubaner. Sie passen sich verschiedenen Situationen an. Tuben haben auch mit dem menschlichen Aussehen zu tun. Wird die Tube geteilt, entsteht ein Körper mit zwei Beinen. Und die Tube erinnert an einen Penis. Eine meiner Ausstellungen hieß „Tubosutra“, in Anlehnung an tubo, das spanische Wort für Tube, und an das Kamasutra. Außerdem werden Tuben ausgedrückt. Die Menschen müssen sich auch jeden Tag ausdrücken. Ich habe die Tuben aber ein bisschen satt und habe vor, mir ein anderes Material zu suchen. Welches, weiß ich noch nicht. Übrigens schmeckt die kubanische Zahnpasta seltsam. Es ist dieser Geschmack nach sozialistischer Zahncreme. Vielleicht ist sie besser als irgendwelche bekannten Marken. Aber die Leute wollen andere haben. Bei mir zu Hause benutzen wir sie nur, wenn wir keine haben, die für Dollars zu bekommen ist. Aber ich versuche, das zu vermeiden.
Fühlen Sie sich manchmal auch wie eine leere Zahnpastatube?
Für mich haben die Tuben viel mit Philosophie zu tun. Ich habe viele Bilder gemacht von Manifestationen des kubanischen Volkes, bei denen die Mensche Tuben sind. Mir hat es sehr gut gefallen, leere Tuben marschieren zu lassen. Weil auch die Aufzüge leer sind. In den Sechziger-, Siebziger- und vielleicht auch noch Achtzigerjahren sind die Menschen voller Hoffnung zu den Manifestationen gegangen. Jetzt sind sie wie leere Tuben, die nach einem neuen Inhalt schreien. Sie gehen zu den Manifestationen, aber sie hören nicht zu oder trinken Rum. Das ist wie karnevalistische Aufzüge. Viele fragen sich, was sie dort verloren haben. Aber die Bilder im Fernsehen sind sehr stark. Man sieht von einem Helikopter aus tausende Kubaner, die auf den Platz der Revolution strömen. Als ich vergangenes Jahr auf der 1.-Mai-Demonstration war, gingen viele, als die Reden begannen. Das war sehr beeindruckend für mich.
Ärgert man sich im alltäglichen Leben nicht auch über die Mangelwirtschaft?
Ich bin nicht der typische Kubaner, dem es an allem fehlt. Vor allem wir plastischen Künstler sind sehr privilegiert. Ich kann reisen, meine Werke verkaufen und mir einen besseren Rum leisten. Es geht uns immer wieder mal schlecht, weil es immer wieder Zeiten gibt, in denen man nichts verkauft. Aber privat geht es mir besser als vielen anderen. Die Bilder, die ich hier in Deutschland gemacht habe, hätte ich in Kuba nicht machen können. Wenn man zum Beispiel ein Ölbild malen will, fehlt entweder die Farbe oder das Holz für den Rahmen. Vielleicht kann man in einem Geschäft acht Tuben weiße Farbe kaufen, doch dann ist sie alle und das Bild halb fertig. So bleiben viele Ideen auf Eis liegen. Es kommt natürlich der Moment, wo man müde wird. Der Wunsch, etwas zu haben, was man braucht und was es nicht gibt, spielt schon eine große Rolle in der kubanischen Kunst.
Nervt es Sie, wenn Kuba auf die Mangelwirtschaft reduziert wird?
Nein. Die Mangelwirtschaft nervt, aber nicht, darüber zu reden. Das ist die Realität. Wir Kubaner haben die Fähigkeit, mit vielen Dingen zu leben, die uns nicht gefallen, ohne zu resignieren. Das ist besser, als traurig zu sein. Ich hätte vor langer Zeit schon Kuba verlassen können. Aber ich kehre immer zurück. Es ist mein Land, und ich will weiter dort arbeiten und meine Erfahrungen an Studenten weitergeben. Außerdem kann man arm sein, aber reich an Geist.
Glauben Sie, dass der Luxus, ähnlich wie der Mangel, stimulierend für Sie sein kann?
Ich glaube, ja. Vielleicht würde ich trivialere Kunst machen, mit besseren, teureren Materialien.
Üben Sie mit Ihrer Tubenkunst indirekt Kritik?
Diese Absicht habe ich nicht. Früher war meine Arbeit politischer. Seit langem lese ich keine Zeitung und gucke kein Fernsehen mehr. Ich weiß nicht, ob das ein Fehler oder ein Vorteil ist. Die Politik ist sowieso überall. Wenn ich mit den Tuben arbeite, haben sie mit den Lebensmittelmarken zu tun, mit der Rationierung. Ich habe mich nie zum Gefangenen einer festen Idee oder eines einzigen Materials gemacht.
Gibt es Sachen in der Überflussgesellschaft im Ausland, die Ihnen nicht gefallen?
Klar. Es gibt Sachen, die mir lächerlich und übertrieben vorkommen. Der Grad der Perfektion in Deutschland zum Beispiel – eines der Länder, das mir am besten gefällt. Wenn ich nach Deutschland komme und ein Kabel anschließen will, mache ich das mit einem Klebeband, und wenn ich wissen will, ob Strom fließt, halte ich den Finger dran. Da reißen die Leute hier die Augen auf, weil sie für alles einen Apparat haben. Diese Unterschiede sind sehr interessant, und auch die Verbindung zwischen diesen beiden Extremen: der Maßlosigkeit der Kubaner und der Ordnung und Pünktlichkeit der Deutschen.