: Die vierzig Ringe
Leerstelle (11): Wie sich in der Knaackstraße die Geschichte schließt, wissen nur ehemalige Kinder
An dieser Stelle beschäftigen sich Franziska Hauser (Fotos) und Thomas Martin (Text) vierzehntäglich mit den Nebenstellen des Lebens.
Dass es zwölf gewesen wären, behauptet Homer. Die Knaackstraße bietet vierzig davon, zwei abgerissene, von denen nur die Verankerungen geblieben sind, nicht mitgezählt. Homer spricht von Axtringen, Ringen im Stiel, an denen die Werkzeuge (Waffen) Raum sparend ins Zeughaus gehängt wurden und durch die der Pfeil vom Bogen des Odysseus ohne Widerstand fährt im 21. Gesang der Odyssee. (Zur Vereinfachung: Die Äxte waren mit dem Stiel der Reihe nach in die Erde gerammt im Schlosshof von Ithaka.) Odysseus gewinnt nach zwanzig Jahren kriegs- und witterungsbedingter Abwesenheit Penelope und sein Königreich zurück und tötet (unerkannt) seine Konkurrenten im Kampf um die mutmaßliche Witwe. Leopold Bloom driftet achtzehn Stunden lang durch das Dublin des 16. und beginnenden 17. Juni 1904 und strandet wie gewohnt bei Molly (Marion) Bloom, Ehefrau. Blooms tragen zum Zeichen ihrer ehelichen Verwandtschaft Ringe; jeder einen, macht zwei. Über Mollys Eigenheiten hinzuschweifen ist hier nicht Platz genug, leider. Von Penelope zu reden soll Homer überlassen bleiben mit einem halben Vers, deutsch: „Sei mir nicht bös, Odysseus!“
Wenn jemand lange weggewesen war und wiederkommt, sagt ein beliebter Gemeinplatz, schließt sich die Geschichte wie ein Ring. Wenn die ins Mauerwerk der heutigen Kulturbrauerei Eingelassenen auch weniger nach Ithaka aussehen mögen als nach Dublins St. James’ Gate resp. Eccles Street, sind sie doch beiden literaturgeschichtlichen Ortschaften gleich nah, gleich fern wohl auch. Es kommt dabei auf die Sichtweise an. Zum Beispiel ließe sich ein dünner Strick durch alle spannen, jeder Ring am Strick mit einem Knoten befestigt, und ein einziger Ruck erzeugte eine horizontal ausgerichtete Ösenröhre, die metaphorisch dafür stehen könnte, dass alles mit allem zusammengehört. Tout se tient, hat Diderot gesagt, es hängt doch alles aneinander. So weit – so einfach, so weit – so kompliziert.
Und so gesehen ist es auch egal, ob Griechenwein, ob Guiness oder Schultheiss hinter den Mauern in Flaschen gefüllt wurde, in einer Zeit, als es mehr auf Brauerei als auf Kultur ankam und als die Umstände des Brauens mehr mit Kultur zu tun hatten als heute. Als Kultur noch näher war an Kultivierung (Fruchtbarmachung) als an „der Gesamtheit der materiellen, sozialen bzw. geistigen u. künstlerischen Lebensäußerungen eines Volkes o. Völkergemeinschaft Gemeinschaft“ (Duden, Band 5, Fremdwörterbuch. Mannheim 1990). So gesehen spielt der Inhalt keine Rolle.
Wir wissen, dass es Schultheiss war, was hier gebraut und ausgeliefert wurde; wir wissen, dass an den unscheinbaren rostigen Ringen die Bierkutscher ihre Oldenburger festgezurrt hatten. Damals müssen sie blank gewetzt gewesen sein. Schöner ist die masochistisch-historische Einbildung, an einen der Ringe gekettet im Zeitlauf zu stehen seit dem Tag, als eine Maurerhand den Haken in einen zementgefüllten Mauerspalt drückte. Man hätte runde 120 Jahre lang zu gucken. Etwa – für das mythologisch interessierte Publikum – wie Prometheus, im Rücken nicht den Kaukasus, aber die einmal weltgrößte Lagerbierbrauerei. Aufschwung, Kriege, Krisen, Revolutionen ließen sich von hier aus – Unsichtbarkeit nach den Regeln des Tagtraums vorausgesetzt – betrachten; wechselnde Moden, mehr und weniger flotte Sprüche, Hassparolen, Pferderassen, Automobile, der ganze Kanon der Geschichte, festgehalten für den Augenblick in historisch einmaligen Fotografien.
Ringe. Jahresringe, Eheringe, Rettungsringe. Ringe im Wasser, Ringe aus Rauch. Ringe aus Eisen, Rost und schließlich Luft. Wofür sie ihre letzten Jahrzehnte lang gut waren, die Knaackstraßen-Ringe, wissen hauptsächlich ehemalige Kinder. Gegenwärtige, weniger oder gar nicht empirische Erhebungen ergeben das. Es muss einer sehr lange warten, wenn er das früher typische Geräusch vernehmen will, dem Klingeln und Klacken und Pochen silberner Hämmer auf Erz nicht unähnlich (so stelle ich es mir vor), wenn wieder ein Kind die hundert Straßenmeter langläuft. Dann sehen Sie auch, warum vor allem Kinder das entdecken, was Sie sehen. Und hören. In durchschnittlicher Kinderkopfhöhe (5–8 Jahre) baumeln die Ringe, und sie lassen sich prima einer nach dem andern mit der Fingerspitze antippen, feines Klingeln zeigt den Grad der Geschicklichkeit an. Man darf ja nicht stehen bleiben dabei. Leichtes Nachhallen scheint dann die Geschichten aus dem Ziegelbau zu rufen, von denen wir hier nicht weiter reden wollen. Tout se tient, sagt Diderot.
THOMAS MARTIN