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Archiv-Artikel

Heruntergekommene Heilige

Helden, die rebellieren, aber an ihrer Rebellion zweifeln. Und die nicht auf dem Sprung sind, um zu landen, sondern um außen vor zu bleiben: Ein Porträt des Schriftstellers Ralf Rothmann, der kürzlich mit „Hitze“ seinen fünften Roman veröffentlicht hat

Ralf Rothmann war der erste Autor einer lustvollen jungen deutschen Literatur„Meine Sprache hat nur dann Schwerkraft, wenn ich aus meinen Erfahrungen spreche“Für 1968 war er zu jung, für die Verweigerung von Punk zu alt

von SUSANNE MESSMER

Wer Anfang der Neunziger über das Jungsein, über Tagträumer und Taugenichtse lesen wollte, für den sah es schlecht aus. Sinnsuche, Underground und Dissidenz – das waren Themen, die zu dieser Zeit kaum in Büchern vorkamen. Die Popliteratur als gut verkäufliches Etikett mit all ihren Höhe- und Tiefpunkten war noch nicht erfunden, und so musste man, wollte man in Deutschland bleiben, bei Karl Philipp Moritz oder Goethe nachblättern, wenn auch – Stichwort Entwicklungsroman – zum Preis der Integration des Helden in die Gesellschaft am Schluss.

Vor diesem Hintergrund war es schon ein Knaller, als Ralf Rothmann 1991 mit seinem Roman „Stier“ debütierte. Endlich ein jugendlicher Held, der nicht vernünftig werden wollte! Endlich ein aufrechter Totalverweigerer, der nicht zur Vermittlung großer Sinnangebote erfunden worden war, sondern nirgends ankommen wollte! So wurde Ralf Rothmann der erste Autor einer lustvoll zu lesenden jungen deutschen Literatur, nahm Adoleszenzromane wie die von Christian Kracht oder Benjamin von Stuckrad-Barre vorweg. Ralf Rothmanns Figuren wechselten das Milieu, sie wurden älter, aber das änderte nichts an seinem großen Thema: Die Unmöglichkeit, sich vom schwebenden Zustand der Pubertät loszureißen. Selbst bei seinem neuen, inzwischen fünften Roman „Hitze“ ist das noch so. Simon deLoo, der sprachlose Kameramann, weigert sich bis zum Ende Fuß zu fassen. Vordergründig verdingt er sich in Großküchen, weil er den Tod der Freundin nicht verkraftet. Eigentlich will er aber nur eins: nirgends mitmachen.

Die Skepsis seiner Figuren spiegelt auch das Image Ralf Rothmanns selbst, das er von sich entwirft. Wie er sich auf den Pressefotos versonnen an die Brille greift, so tritt er auch in echt auf. Ralf Rothmann, geboren 1953 als Sohn eines Bergarbeiters im Ruhrgebiet, zog 1976 nach Berlin. Er stellt den dar, der sich nicht festsetzen will. Für das Interview hat Ralf Rothmann das Berliner Traditionscafé Einstein Unter den Linden vorgeschlagen, einer der wenigen Orte, die touristisch genug sind, dass man einmal auch Fremder in der eigenen Stadt sein kann. Rothmann, der 25 Jahre in Kreuzberg gelebt hat, wohnt jetzt mit seiner Frau am Rand von Berlin, in Friedrichshagen am Müggelsee. Nicht dass er sich dort besonders wohl fühlen würde, räumt er später ein, „die Doppelhaushälften und all das“.

Die Biografien von Ralf Rothmanns Männern stimmen mit seiner eigenen in vielen Punkten überein. „Meine Sprache hat nur dann Schwerkraft, wenn ich aus meinen Erfahrungen spreche“, sagt er und räumt damit alle Skepsis aus, dass man eine Ahnung von diesem Autor bekommt, indem man über seine Figuren spricht. Wie seine Helden ist Ralf Rothmann früh von zu Hause abgehauen. Wie Carl Karlsen aus „Stier“ brach er die Maurerlehre ab, die Maloche, die Gespräche über „Normalformate“ und „Mischverhältnisse“, Benzinverbrauch und Sterbegeld.

Ralf Rothmann ist in einer Zeit aufgewachsen, in der Zweckoptimismus und Fortschrittsgläubigkeit viel galten, aber auch viel zerbrachen. Wie er stammen seine Figuren aus proletarischen, bestenfalls kleinbürgerlichen Elternhäusern. Doch anders als man annimmt, sind die Väter in der Welt Rothmanns nicht mehr so eindeutig verankert wie viele autoritäre Nachkriegsväter. „Eins zu eins“ habe er seine zunächst aus Westpreußen nach Norddeutschland geflüchteten Eltern in seinem Roman „Milch und Kohle“ von vor einem Jahr beschrieben, erzählt er. „Mein Vater war gelernter Melker. Während es für ihn ein Unglück war, in den Bergbau zu gehen – er hatte gern unter freiem Himmel gearbeitet – war es für meine Mutter ein Sozialaufstieg.“

Auch in den anderen Romanen Ralf Rothmanns tauchen schwache Väter auf. Die einzige Stelle, an der Simon DeLoo aus „Hitze“ von sich erzählt, ist die, an der er seiner neuen Geliebten Lucilla von seinem Vater berichtet. Er berichtet, wie der nach dem Krieg nicht mehr in den alten Beruf zurückwollte, wie er zunächst als Steuerberater, dann als Korrektor bei einer Tageszeitung arbeitete, sich in der verwinkelten Wilmersdorfer Wohnung in seinem Arbeitszimmer verschanzte und das Geldverdienen seiner Frau überließ.

Vielleicht sind schwache Väter einer der Gründe, warum die Söhne bei Rothmann keine starken Gegenmodelle fahren müssen, warum sie so sympathisch ambivalent ausfallen. Ihre Radikalität gerät in der Konfrontation mit diesen Vätern oder in der Erinnerung an sie auf harten Prüfstand und vertrocknet oft zur selbstgerechten Pose. Die Helden rebellieren, zweifeln aber an ihrer Rebellion. So entsteht ein Schimmern, das an die Ironie der Romantik erinnert, diese gleitende Geisteshaltung, die das unermüdliche Forschen nach der Wahrheit fordert, sie aber nie erreicht, frei nach dem Ausspruch Novalis’: „Wo gehen wir denn hin? Immer nach Hause.“

Altersmilde, mediokre Zufriedenheit – all das gönnen sich Rothmanns Aussteiger auch nicht, wenn sie alt geworden sind. Sie sind nicht auf dem Sprung, um irgendwo zu landen, sondern um außen vor zu bleiben. Diese Männer, die selbst in ihren alternativen Entwürfen nie ankommen, die sich weigern, ihre Suppe zu essen, gelingen, weil Rothmann das kaputte Milieu, in dem sie sich bewegen, so gründlich studiert hat. Nachdem er nach Berlin gekommen war, arbeitete er lange Jahre, bevor er vom Schreiben leben konnte, als Koch, Krankenpfleger, Drucker, in der Kneipe, als Fahrer in einem Architekturbüro.

Zwischen den Stühlen sind aber nicht nur die Figuren Ralf Rothmanns. Obwohl inzwischen im bürgerlichen Beruf angekommen, ist auch er selbst ohne Aussicht auf Ankunft in einer Schublade oder Zugehörigkeit zu einer Generation. Für die Hoffnungen von 1968 war er zu jung, für die Verweigerungshaltung von Punk und New Wave zu alt. Für die Beschreibung der grellen Oberflächen der Unterhaltungskultur, wie sie Altersgenossen wie Thomas Meinecke oder Rainald Goetz als Abgrenzung gegen das müde Engagement der „großen Brüder“ betrieben, waren Ralf Rothmanns Jungs zu unsicher. Für die neuen Subjektiven wie Fritz Zorn oder Karin Struck, die sich aus ähnlichen Gründen auf Innerlichkeiten kaprizierten, waren sie wiederum zu radikal.

Wie Ralf Rothmann immer ein bisschen Pop und ein bisschen innerlich war, aber nie Pop oder innerlich genug, um als Aushängeschild des einen oder anderen gefeiert zu werden, so pendelte Ralf Rothmann auch immer angenehm unentschlossen zwischen dem Image des Arbeiterautors und Sozialaufsteigers. Das war sein Gluck: Immer ging es ihm weniger um die Stilisierung als um die Überwindung der Schachtanlagen und Fabriken des Ruhrgebiets. Nie kippten seine Bücher in Sozialkitsch, nie ließ er sich zum „Greif zur Feder, Kumpel“-Vorzeigeproll instrumentalisieren. Andererseits ist er auch einen Tick zu froh darüber, Schriftsteller sein zu dürfen, um in einer schicken Clique gefragter Meinungsmacher mitmischen zu dürfen.

Manchmal ist Ralf Rothmann schon als „Christologe“ bezeichnet worden. Spricht man ihn darauf an, sagt er: „Würde ich mich als Christ bezeichnen, dann wäre ich keiner mehr.“ Viel redet er vom „Leidensdruck“, den die Literatur brauche und vom „Mitleid“ als hervorragendster Eigenschaft des Schriftstellers. Immer wieder tauchen Hinweise wie der auf das Hohelied Salomons oder die reinigende Kraft der buddhistischen Meditation auf, die zu überlesen schwer fallen. Ralf Rothmanns Männer sind heruntergekommene Heilige, die man gern mag, weil sie so duldend sind. „Das erbärmliche Scheitern der Figuren ist für mich nur ein vordergründiges Scheitern“, sagt Ralf Rothmann dazu, und: „Gibt es jemanden, der grandioser gescheitert ist als Jesus?“ Jesus Christ – Superstar? Only the good die young? Möglich, dass Ralf Rothmann für „Milch und Kohle“ deshalb den evangelischen Kirchenpreis bekommen hat.

Nur manchmal, da wird Ralf Rothmann kitschig, da drohen seine Geschichten mit platten Metaphern Richtung Esoterik und transzendentale Sehnsucht, feiste Gewissheit und Glücksverheißung abzubiegen. Einmal zum Beispiel beschreibt er den roten Schattenriss einer Rose hinterm Paravent in einem Krankenhauszimmer. Das ist hart an der Grenze, relativiert sich aber dann doch, weil der kranke Vater eben noch von wunden Stellen sprach, dass man sie spüren konnte. Weil Momente wie diese bei Rothmann immer gebrochen sind durch die brutale Beschreibung der übermächtigen, der räudigen, der dreckigen Wirklichkeit, schleicht sich eine Vermutung ein: Könnte es sein, dass Desillusionismus am härtesten kommt, wenn ein bisschen Hoffnung im Spiel ist? Vielleicht gehen sie ja wirklich nur deshalb so gut, diese unschlagbaren, überscharfen Rothmann-Sätze über die Tresen und Biertische, Schleiflackschränke, Brotkörbe und Rätselhefte des Kleinbürgertums in der Ruhrpott-Trilogie, den Romanen „Stier“, „Wäldernacht“ und „Milch und Kohle“. Diese Blicke wie mit der Kamera auf die Subproleten, Unglücklichen und Abgestürzten in Nachwende-Berlin in „Flieh mein Freund“ oder eben zuletzt „Hitze“, diese Pommesverkäuferinnen mit dem teigigen Teint und dem strohstumpfen Haar, dieses Raumspray, diese Aluminiumteller, diese manchmal schmerzhaft dummen Sprüche, Kalauer, O-Töne, die Rothmann dem Volk mit bewundernswerter Ausdauer vom Maul klaubt, diese dicken Dinger von „Ich krieg gleich ’n Anfall“ über „Alles im Lack“ bis hin zu „Nicht schlecht, der Hecht“, diese berlinernden Hässlichkeiten und Stumpfsinnigkeiten, diese barocken Aufzählungen von rußigen Fassaden, ätzenden Gerüchen nach kalten Öfen und Terpentin, klamme Kälte, Eckkneipen, Puffs, Baustellen, dieser Schlamm. Dieser Graus, dieser Ekel: Auch wenn er nur als Kontrastmittel gemeint ist, so brutal hat man ihn trotzdem selten gehabt.

Und außerdem: Einen heiligen Zweifler, einen, der allen humanistischen Weltentwürfen und anderen Heilsplänen gegenüber misstrauisch bleibt und darum umso wahrhaftiger ist, wird man in der Bibel vergeblich suchen: Hiob ja, aber ohne sicheren Hafen am Ende. Während Ralf Rothmanns Nachfolger, die jungen Popliteraten, weil sie die Spannung zwischen süßer Sehnsucht nach Spiritualität und dem Gebot der Stunde, immer hübsch zynisch zu sein, nicht aushielten, bleibt Ralf Rothmann auf der Suche. Leute wie Christian Kracht, Benjamin von Stuckrad-Barre und Florian Illies versuchen inzwischen, in entlegenen Ländern unsichtbar zu werden, sich mit Drogen zu betäuben oder in die Politik zu gehen. Bei Ralf Rothmann dagegen fühlt sich noch alles nach Aufbruch an. Nach Aufbruch ohne Ende.

Ralf Rothmann: „Hitze“. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main, 289 S., 19,90 €