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Archiv-Artikel

Ein Mittel gegen linke Melancholie

„Zwielicht“, der zweite Teil von Erasmus Schöfers großem Romanzyklus über die deutsche Linke seit 1968

Schöfers Zyklus ist ein Textarchiv der gesellschaftlichen Auseinandersetzungen

Wann hat es das je gegeben? Ein Fabrikbesitzer übergibt seinen Laden den Arbeitern, wenn diese ihm fortan Wohnung, Auto und Altersrente zahlen. Der nunmehr belegschaftseigene Betrieb genehmigt sich umgehend eine Lohnerhöhung, weil ansonsten die Facharbeiter in andere Produktionsstätten abzuwandern drohen. Und die Intellektuellen von Rhein und Ruhr reisen an, um das Experiment Selbstverwaltung zu studieren, im Gepäck den Vorschlag, die schönen Produkte der nordhessischen Glashütte auf einem Parteifest der DKP zu verscherbeln. Lange muss man zurückdenken, mehr als drei Jahrzehnte. Obwohl gerade die Panzer des Warschauer Pakts die Vision eines Sozialismus mit menschlichem Antlitz zerstört hatten, blieb die Illusion einer Demokratisierung der Gesellschaft von unten noch eine Zeit lang lebendig: Der erste Ölschock stand erst noch ins Haus.

Erasmus Schöfer, Jahrgang 1931, hat sich vorgenommen, die Geschichte der Linken in unserem Lande zwischen 1968 und 1990 literarisch zu verarbeiten. Nach dem 68er-Roman „Ein Frühling irrer Hoffnung“ (2001) erscheint nun der zweite Band des auf vier Werke angelegten Zyklus „Die Kinder des Sisyfos“, der die Siebzigerjahre behandelt. Hier treffen wir wieder auf die Protagonisten des ersten Romans, den Geschichtslehrer Bliss und den Betriebsrat Anklam, nunmehr bedroht von Berufsverbot und Entlassung.

Beide treten in den Hintergrund gegenüber einer neuen Hauptfigur, dem jungen Journalisten Armin Kolenda. Dieser verdient sich erste Anerkennung als Chronist der erwähnten Betriebsversammlung, begleitet dann propagandistisch die Auseinandersetzungen um das Badener Atomkraftwerk Wyhl mit dem Theaterstück „Krieg am Kaiserstuhl“ und engagiert sich schließlich im Düsseldorfer Werkkreis „Literatur der Arbeitswelt“. In diesem bodenständigen Umfeld, wo wir neben Leitfiguren wie Wallraff und von der Grün auch einem „pfiffigen Feuilletonisten“ namens Schöfer begegnen, werden die ästhetischen Debatten der Epoche geführt und etwa darüber gestritten, an welchen realistischen Traditionen man anknüpfen kann oder wie das Verhältnis von Kunst und Kommerz zu bestimmen ist. Uwe Timm wird eher abschätzig als „Mercedesfahrer des Literaturbetriebs“ eingestuft. Er bewegt sich allerdings auch noch heute auf der Überholspur. Wie in den Brecht’schen Lehrstücken treten die politischen und vor allem ideologischen Positionen jener Jahre gegeneinander an, wird das Verhältnis der Linken zum Staat, zur Arbeitswelt und zu sich selbst diskutiert. Die Fronten werden klar abgesteckt. Aber hin und wieder, und dies erhebt Schöfers dickleibiges Werk über die sozialromantische Kolportage, die ja ebenfalls sein Thema ist, gibt es Momente der Nachdenklichkeit und Reflexion. Wenn sich etwa die Eifersucht seiner Helden nicht durch bedingungslose Ehrlichkeit aus der Welt schaffen lässt, dann erweist sich das, was eine Kapitelüberschrift „Nebenwidersprüche“ nennt, schließlich als lebensentscheidend. Recht verhalten klingt die dialektische Pointe: „Die Menschen sind noch nicht die besten.“ Das Abtauchen im „yellow submarine“, die Naivität einer Generation, die kompromisslos nur an sich selbst glaubte, führt die Katastrophe des deutschen Herbstes herbei, die den Roman beendet. Während die RAF nur am Rande auftaucht, verfolgt der Autor die Auswirkungen ihrer Wahnsinnstaten bis in den Alltag der Republik.

In der Umgebung von Kassel, wo die Handlung einsetzt, haben bereits die Brüder Grimm ihre Märchen gesammelt. Es geht Schöfer allerdings nicht darum, nostalgisch den Geist ferner Tage zu beschwören, sondern das „Zwielicht“ aufzuklaren, in das eine vorgeblich bleierne Zeit getaucht scheint. Ganz unaufgeregt, aber vielstimmig lässt er die Erinnerung zu Wort kommen.

Sein unzeitgemäßer „Zeitroman“ ist ein großes und anspruchsvolles Unternehmen, ein Textarchiv der gesellschaftlichen Auseinandersetzungen, eine Literaturgeschichte in der Literatur, in die Schöfer Gedichte von sich und anderen aufgenommen hat, Rezensionen und Rundfunkinterviews und hin und wieder eine anrührende Liebesgeschichte. Und wenn eine Buchüberschrift ein Motto der Bürgerbewegung aufnimmt („Machen wir heute, was morgen erst schön wird“), dann zeigt sich, dass „Die Kinder des Sisyfos“ ein Romanzyklus gegen die Resignation ist, ein Mittel gegen linke Melancholie. HERIBERT HOVEN

Erasmus Schöfer: „Zwielicht – die Kinder des Sisyfos“. Dittrich Verlag, Berlin 2004, 600 Seiten, 24,80 €