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Archiv-Artikel

Wem gehört Madame Sand?

aus Nohant DOROTHEA HAHN

Drei violette Veilchen schmücken den grob behauenen Stein. Kleine Blüten, wie sie am Feldrand wachsen. Der Wind trägt Schafblöken herüber. Hinter einer Hecke donnert ein Bauer im Traktor über die Dorfstraße. Zum Gruß hebt er vier Finger der linken Hand vom Lenkrad. Auf dem Pflaster kleben Klumpen schwerer, dunkler Erde.

In den Stein sind zwei Namen für ein und dieselbe Person gemeißelt: „George Sand“ und: „Amantine Lucile Aurore Dupin, Baronin von Dudevant“. Dazu die beiden Orte, die ihr Leben bestimmten: „Paris“ und „Nohant“. In der Hauptstadt ist George Sand geboren. Hat sie sich den Künstlernamen zugelegt, der weder männlich noch weiblich klingt und ursprünglich von einem Geliebten stammt. Dort hat sie veröffentlicht und Bekanntschaften gemacht.

In dem Dorf liegt ihr Schloss, das die umliegenden geduckten Bauernhäuser um zwei Stockwerke überragt. Dort hat sie 41 Jahre ihres Lebens verbracht. Hat geschrieben, gezeichnet, ihre Kinder und Enkelkinder großgezogen, Marmelade gekocht und Hof gehalten – vor allem für ihre Freunde aus Paris.

Dort hieß George Sand „die Provinzlerin“. Als interessant galten ihr Leben als Bohemienne, ihre Liebschaften mit berühmten Männern und ihre politischen Pamphlete. Ihre Romane über Bauern, Straßenkinder und einsame Frauen, von denen sie manche im Dialekt des Berry verfasste, sorgten dagegen für Naserümpfen. Das war keine Hochkultur.

Der hauptstädtische Blick hat zwei Jahrhundertwenden überlebt. Jetzt ist er überholt. Zum 200. Geburtstag soll der „Provinzlerin“ die größte posthume Ehre zuteil werden, die Frankreich kennt: die Pantheonisierung. Ihre sterblichen Überreste sollen aus dem Boden von Nohant gegraben und in den Totentempel der Republik auf einem Hügel im 5. Pariser Arrondissement überführt werden.

Das Dorf Nohant zieht jedes Jahr mehr als 30.000 Menschen an. Sie kommen wegen George Sand. Und wegen Chopin, der sieben Jahre mit ihr hier verbracht hat. Sie besuchen das Schloss, verbeugen sich über dem Grabstein und wandern über das leicht gewellte Land. Für die Bauern, die es beackern, ist George Sand die „gute Frau von Nohant“. Sie wollen ihre Reste behalten.

Sie war großzügig und nah am Volk. Sie hat ihr Personal „Hausleute“ genannt, statt „Domestiken“. Und sie hat ihrer Köchin das Lesen und Schreiben beigebracht. An ihrer Tafel wurde der ärmste Bauer direkt neben einem Prinzen platziert. Christine Biaud ist Führerin im Schloss. Ihre George Sand war eine tugendhafte Frau, die „von allen ausgenutzt wurde“. Sie hatte einen „schrecklichen Ehemann“, der „sie schlug“, war eine „aufopferungsvolle Mutter“ und die Geliebte vor allem eines Mannes: Chopin, der hinter einer isolierten Doppelwand komponierte. In einem holzgetäfelten Raum im ersten Stock macht die Schlossführerin Halt. Hier hat George Sand wie eine Besessene geschrieben – manchen Roman in nur vier Nächten. Hier ist sie gestorben: mit Blick auf den großen Garten, in dem sie beerdigt wurde. Der Gedanke an eine Überführung der Reste entlockt der Schlossführerin einen Stoßseufzer. „Ich bin nicht dagegen“, sagt sie, „George Sand verdient eine große nationale Ehrung. Und Frauen gehören sowieso unbedingt ins Panthéon. Aber warum sie hier wegnehmen?“

Sie hat es geschafft, in das tiefe Frankreich einzudringen. Sie hat die Traditionen des Berry kennen gelernt: den Totenkult, die Geschichten und den Dialekt. Und sie hat sie in ihren Romanen verarbeitet. Robert Franco war bis zu seiner Verrentung für das Schloss von George Sand zuständig und kennt ihr Leben aus dem Effeff. Als einer der Ersten ist er öffentlich gegen ihre Überführung eingetreten. „Reiner Parisianismus“, wettert er. Seine Alternative: eine Zeremonie, bei der ein „Sarg mit symbolischem Inhalt, beispielsweise einem Manuskript“ in das Panthéon gebracht wird. „Wenn die Berrichons einer Fremden vertrauen, bedeutet das sehr viel“, sagt Robert Franco: „George Sand ist dieses Kunststück gelungen.“ Als Beleg nennt er ihre Romane. Rohmaterial sind Bauerngeschichten aus der Region.

Ich bin verliebt in George Sand. Sie war ein trauriges, einsames Mädchen. Sie hat ihr Leben lang nach Liebe gesucht. Ihre Bücher mag ich nicht besonders. Das sind schnell geschriebene, einfache Bauernromane. Sie hat Tinte gepisst. Neal Storrs ist Französischlehrer in St. Petersburg im US-Bundesstaat Florida, wo es eine große George-Sand-Fangemeinde gibt. Vor zwei Jahren ist Neal Storrs eine George-Sand-Biografie in die Hände gefallen. Seither erforscht er alles, was er über sie finden kann: ihre unglückliche Kindheit, ihre zahlreichen, oft viel jüngeren Liebhaber, ihre „furchtbare und eifersüchtige Beziehung zur Tochter“ und ihre „Konkurrenz mit anderen Frauen“. Jetzt ist er im Berry: „wegen ihr“. Und stellt fest, dass dort manche Geschichten aus George Sands Leben, 127 Jahre nach ihrem Tod, noch tabu sind. Im Museum des Provinzstädtchens La Châtre etwa gelten beide Kinder von George Sand als Früchte ihrer Ehe. Der Amerikaner beschwert sich bei einer Museumsangestellten: „Das ist nicht die historische Wahrheit.“ Die Frau nickt. Und reicht ihm ein Dossier, das sie an der Rezeption aufbewahrt. Darin steht der Name des leiblichen Vaters der Tochter. „Aus sentimentalen Gründen“ gehört George Sand in den Berry, findet der Amerikaner. Auch wenn „die Franzosen ihre Schriftsteller an einem Ort in Paris konzentrieren wollen. Für die Ewigkeit“.

Sie war die größte Frau des 19. Jahrhunderts. Regional, national und international. Sie hat viel für die Menschheit getan. Besonders für die sozialen Rechte und für die Rechte der Frauen. Christiane Sand hat 1961 in die Familie eingeheiratet. Inzwischen ist sie Witwe, Alleinerbin und die einzige Person, die den Künstlernamen Sand ohne jeden Zusatz zu ihrem eigenen gemacht hat. Von einem Landhaus oberhalb des Dorfes Gargilesse im Berry aus koordiniert die Erbin Kampagnen. Sie hat in Tokio, New York und Paris Konferenzen über ihre große Namensgeberin gehalten. Hat zwei Bücher über sie – ihre Küche und ihren Garten – veröffentlicht. Und betreibt jetzt ihre Pantheonisierung. Ihre Petition an den französischen Staatspräsidenten, der letztlich entscheidet, endet mit dem Satz: „Alle Demokraten müssen die Überführung wollen.“ Ehrenpräsidentin des Komitees zur Pantheonisierung ist Claudia Cardinale. Die Bauern des Berry „darf man nicht ernst nehmen“, findet Christiane Sand: „das sind Idioten, die keine Ahnung haben.“

Die Dame war ein bisschen revolutionär. Sie hat sich erlaubt, Hosen zu tragen, Pfeife zu rauchen und Liebhaber zu haben. Bis zu ihrem 18. Lebensjahr hat sie in Paris gewohnt. Dann ist sie ins Berry gekommen. Sie wollte immer hier bleiben. Bei ihren Nächsten. Serge Robin, der Bürgermeister von Nohant und dem Nachbarort Vic, hat aus dem Radio von dem Plan erfahren, ihm seine berühmteste Tote wegzunehmen. „Da steckt die Pariser Intelligenzija hinter“, vermutete er sofort, „das sind Leute, die immer denken, dass sie das Richtige denken – für die anderen.“ Der Bürgermeister, im Hauptberuf Bauer, fährt oft nach Paris. Auf der Autobahn braucht er drei Stunden für die Strecke, auf der George Sand drei Tage in der Kutsche unterwegs war. Im Panthéon war er noch nie: „Das ist kein Ort, wo man hingeht.“ Ein Kollege hat sich den Tempel kürzlich angeschaut und anschließend im Berry Bericht erstattet: „Das Panthéon ist traurig und kalt.“ Serge Robin hat in seinem Dorf eine Umfrage organisiert. Auf die Frage „Sind Sie für oder gegen eine Überführung?“ antworteten alle 300 Stimmberechtigten: „dagegen“. Sein Gemeinderat – „in dem die Frauen die Mehrheit haben“ – stimmte ebenfalls mit „nein“. Am Schluss trafen die Bürgermeister des Départements zusammen: Alle wünschen eine „nationale Ehrung“ für George Sand, aber 99 sprechen sich gegen die Überführung ihrer Reste aus. Nur einer votierte dafür. Die Bauern aus den Gehöften rund um das Schloss wollen die „gute Frau von Nohant“ notfalls mit Mähdreschern und Traktoren gegen das Ausbuddeln verteidigen. „George Sand gehört uns nicht“, sagt Bürgermeister Serge Robin, „sie gehört niemandem. Und sie bleibt hier.“

George Sand ist keine Berrichonne. Sie hat mehrere Bücher über das Schwarze Tal im Berry geschrieben. Aber ihr Genie besteht darin, eine Figur in einem konkreten Territorium anzusiedeln, um universelle Fragen zu behandeln. Georges Buisson hatte die Idee mit der Pantheonisierung. Er machte den Vorschlag vor zwei Jahren, kurz nachdem er von der Pariser Zentrale in das Berry versetzt worden war, um die Oberaufsicht über das Schloss von George Sand und andere Museen in der Region zu übernehmen. „Zu ihrem 200. Geburtstag musste etwas geschehen“, sagt er. In Paris fiel die Idee auf fruchtbaren Boden. Der Kulturminister hat 2004 zum „Nationalen George-Sand-Jahr“ ausgerufen. Die zuständige Kommission überlegt auch, ob es möglich ist, die Reste von George Sand im Berry zu lassen. Und einen Sarg mit symbolischem Inhalt feierlich in das Panthéon zu tragen.

Seinen großen Männern – das dankbare Vaterland. Der Satz prangt am Giebel des wuchtigen Gebäudes auf dem Sainte Geneviève-Hügel im 5. Pariser Arrondissement. Das Pantheon dient 73 Toten als letzte Ruhestätte. 71 sind Männer, darunter Militärs, Beamte, Politiker sowie Denker und Künstler. Zwei Tote sind Frauen. Eine, die Nuklearforscherin Marie Curie, liegt hier seit 1995 wegen eigener Verdienste. Die andere, Sophie Berthelot, kam 1907 ins Panthéon, weil sie am selben Tag starb wie ihr berühmter Gatte. Im Inneren herrscht eisige Kälte und Totenstille. Ursprünglich hatte Ludwig XV. den Bau in Auftrag gegeben. Als Kirche. Als sie fertig war, hatten die Revolutionäre die Macht erobert. Sie mauerten die Fenster zu, verbannten die religiösen Symbole und verwandelten die Kirche in ein Mausoleum.

An der Kasse zum Panthéon schimpft ein Vater: „Ich zahle Steuern, um das hier zu unterhalten. Jetzt soll ich auch noch 7 Euro Eintritt hinlegen? Unverschämt!“ Er schiebt seine drei Kinder in die gleißende Sonne hinaus und verlässt die Toten seiner Republik. Ihre Grabstätten, die Plastikblumen, die Fahnen und Gedenktafeln in den unterirdischen Nischen besucht er nicht.