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Auf Sinnsuche in Turku

Der Mensch am Abgrund des Seins, der verzweifelt versucht, die Ordnung der Dinge wiederherzustellen: Jan Costin Wagner hat mit „Eismond“ einen außergewöhnlichen Roman über einen depressiven Kommissar und einen Serienmörder geschrieben

von ANSGAR WARNER

Konnte man „Nachtfahrt“, Jan Costin Wagners ersten Roman, als eine Art deutsche Antwort auf Patricia Highsmith’ talentierten Mr. Ripley lesen, so scheint sein zweiter Roman „Eismond“ eine eigenwillige Anspielung auf die Kriminalromane des schwedischen Bestsellerautors Henning Mankell zu sein. Nicht nur die Story von „Eismond“, die Jagd nach einem Serienmörder im finnischen Turku, legt diesen Bezug nahe. Auch der Verlag hat kräftig nachgeholfen: Die Umschlaggestaltung des Bandes ähnelt verblüffend den Einbänden von Mankells Wallander-Serie.

Doch täuscht die listige Camouflage nicht darüber hinweg, dass es Wagner auch in „Eismond“ eigentlich darum geht, über Menschen zu berichten, die sich mit den letzten Dingen beschäftigen. Der Plot mit der Figur des ermittelnden Kommissars im Zentrum ist nur Mittel zum Zweck. Ganz im Sinne Kracauers, der in den Zwanzigerjahren die Funktion des Krimi-Detektivs darin sah, stellvertretend die entgleitende Realität unseres Lebens durch methodisches Denken noch einmal in den Griff zu bekommen. Der Mensch am Abgrund des Seins, der verzweifelt versucht, die Ordnung der Dinge wiederherzustellen – so beginnt auch „Eismond“: Kommissar Joentaa erlebt am Krankenbett den Tod seiner Frau und stürzt in eine existenzielle Krise. Um seiner tiefen Depression zu entgehen, meldet er sich frühzeitig zum Dienst in der Turkuer Mordkommission zurück. Keine Minute zu früh, denn in der Hafenstadt am finnischen Meerbusen geht ein Serienmörder um, der seine Opfer lautlos im Schlaf tötet. Kaum einen Tag nach dem Tod seiner Frau inspiziert Joentaa den Fundort der ersten Leiche. Die junge Gattin eines Handlungsreisenden wurde im Schlaf mit einem Kissen erstickt, scheinbar ohne Motiv.

Wie in Trance registriert Joentaa die Analogien zwischen dem nächtlichen Entschlafen seiner Frau und der Todesart des Mordopfers. Ihn lässt der Gedanke nicht mehr los, dass zwischen seinem Problem und der Gedankenwelt des Mörders ein komplexer Zusammenhang besteht. Doch welcher?

Das weiß zunächst nur der Leser, denn die Handlung von „Eismond“ ist multiperspektivisch angelegt: Wagner schildert parallel zur Trauer- und Ermittlungsarbeit des Kommissars die Erlebniswelt des Mörders. Dieser leidet an einem unbewältigten Trauma – er hat ebenfalls nahe Angehörige verloren. Durch die Mordtaten bekämpft er die aus dem Verlust resultierenden Angstzustände: Aus der Opferrolle wird so eine Täterrolle.

Auch auf der Plot-Ebene wird die Verbindung zwischen Jäger und Gejagtem manifest: Ohne zu wissen, mit wem er es zu tun hat, wechselt Joentaa in einem Café ein paar Worte mit dem Serienmörder, einem ganz in Schwarz gekleideten jungen Mann, der dort gerade am Klavier improvisiert. Erst lange danach, als das Phantombild des Täters mehr und mehr Gestalt annimmt, wird dem Kommissar klar, dass er ihn bereits kennt. Der Akt der Erkenntnis vollzieht sich unter der Oberfläche des Bewusstseins, in einer Mischung zwischen Vision und Tagtraum. Die Lösung des Falles wie überhaupt aller Fragen wird in „Eismond“ nicht durch aktives Handeln erreicht, schon gar nicht durch deduktive Vernunft, sondern in der Leideform: Man muss warten, bis etwas geschieht, weshalb auch die Suche nach dem wiedererkannten Unbekannten im winterlichen Turku ergebnislos verläuft.

Wagners finnisches Szenario bietet geradezu die Kontrafaktur des Mankell’schen Modells: Anders als in Schweden findet in Finnland nicht der Kommissar den Mörder, sondern der Mörder findet den Kommissar. Der Gesuchte setzt sich schließlich mitten in der Nacht vor Joentaas Haustür, schläft ein und erfriert. Die Akten werden geschlossen, ohne dass es befriedigende Antworten gibt. Zumindest Joentaas Lebenskrise scheint überwunden. Seine Trauerarbeit findet ein Ende: Das Leben geht weiter – trotz aller Beschädigungen. Nicht nur die Rechtsordnung ist wiederhergestellt, sondern überhaupt die Ordnung der Dinge, die das Leben bis auf weiteres sinnvoll erscheinen lässt.

Natürlich ist „Eismond“ auch ein spannender Kriminalroman. Und auch eine außergewöhnliche Liebeserklärung an Finnland, an dessen kauzige Bevölkerung und die hypnotische Wirkung finnischer Winterlandschaften. Doch im Zentrum steht der ungewöhnliche Versuch zweier Menschen, die Kontingenzen des Daseins zu bewältigen. Am Ende bleibt die Einsicht, dass dabei Erfolg und Scheitern unauflösbar miteinander verbunden sind. Was mehr ist, als man von einem Krimi erwartet.

Jan Costin Wagner: „Eismond“. Eichborn, Berlin 2003, 308 S., 19,90 €

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