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Archiv-Artikel

Hundert Farben Rot

Wer einmal wissen möchte, wie das Fantastische in der Literatur wirklich aussieht, ist hier allerbestens aufgehoben: Walter Moers’ großartig bizarrer, abgründiger und reicher dritter Zamonien-Band „Rumo & Die Wunder im Dunkeln“

„Rumo“ ist das erzählerische Pendant zu einem Diptychon von Hieronymus Bosch

Ein Magier, selbst ein überdurchschnittlich begabter, braucht sehr lange, um erwachsen zu werden. Sieben Jahre muss er dafür auf eine spezielle Schule gehen, und für jedes Jahr entsteht ein neues Buch, eines dicker als das vorhergehende. Bei Wolpertingern hingegen verläuft die Wachstumsphase äußerst rasant, sie verwandeln sich innerhalb weniger Wochen von süßen, tapsigen Fellknäueln in stattliche und hochgewachsene Kämpfer mit mehreren Reihen gefährlicher Reißzähne, vor denen auch der mutigste Internatsschüler sofort Reißaus nehmen würde. Diese ganze Entwicklung dauert höchstens ein Kapitel, in dem auch noch für ein Dutzend weiterer Geschichten Platz ist.

Damit hat man in etwa eine Vorstellung von den unterschiedlichen Erzählgeschwindigkeiten einer Joanne K. Rowling und eines Walter Moers. Wenn Moers seiner Fantasie freien Lauf lässt, dann nimmt er den Leser mit auf einen rasenden Galopp über Stock und Stein. Mit Leichtigkeit entwirft Moers in wenigen Absätzen ganze Lebensgeschichten und mythische Legenden, die seine britische Kollegin vermutlich zu schwergewichtigen Schwarten ausbauen würde. Wer also wirklich einmal wissen will, wie das Fantastische in der Literatur aussehen kann, wenn man nur genug Fantasie hat und sich selbst nicht allzu ernst nimmt, der sollte Walter Moers nach Zamonien folgen.

„Rumo“ ist das erzählerische Pendant zu einem Diptychon von Hieronymus Bosch. Hier ist sowohl der Garten Eden der Obenwelt als auch die Hölle der Untenwelt überreich an Bizarrem und Abgründigem, an Eydeeten, Kristallskorpionen, kupfernen Kerlen, Schubladenorakeln, Frostfratten, Schrecksen, Nurnen, untoten Yetis, unvorhandenen Winzlingen, Vrahoks, Lindwurmfesten und mehr.

Zusammengehalten wird das Ganze durch die Geschichte von Rumo, dem Wolpertinger, von seinem rasanten Heranwachsen in den Vorratskammern der Teufelszyklopen, seiner Flucht mit der Haifischmade Volzotan Smeik, seiner Ausbildung in den Kampfschulen Wolpertings und vor allem seiner verzweifelten Suche nach dem eigenen Volk und der großen Liebe, die nach Untenwelt verschleppt worden sind. Sein wichtigster Begleiter auf dieser Reise ist übrigens ein wenig eindrucksvolles, aber telepathisch begabtes Kurzschwert, in das aufgrund eines Irrtums sowohl die Seele eines Stollentrolls als auch die eines Dämonenkriegers eingeschmiedet wurden. Die Dialoge zwischen Rumo und seiner schizophrenen Waffe gehören zu den lustigsten Passagen des Buchs.

Heimlicher Hauptdarsteller dieser und der anderen Bücher aus Zamonien aber ist der sonderbare Kontinent selbst. Zamonien ist so, wie Phantasien gewesen wäre, wenn Michael Ende mehr Horrorfilme gesehen und auch noch Humor gehabt hätte, und Moers beschreibt es wie ein Tolkien, dem man zuerst zwanzig Jahre lang verboten hat, auch nur einen fantastischen Satz zu äußern, und den man dann auf LSD setzt.

Wie auch die beiden ersten Zamonien-Romane ist „Rumo“ außerdem eine ungebändigte Orgie der Literaturgeschichte, in der sich von Homer über Grimmelshausen und Swift bis zu E. T. A. Hoffmann und Novalis zahllose Texte gegenseitig befruchten, was erwartungsgemäß zu einer kaum noch klassifizierbaren Kreuzung führen muss. Die blaue Blume ist hier ein silbernes Band, das einen simplizistischen Odysseus auf der Suche nach seiner Eurydike geradewegs durch Dantes Inferno in Schlachten führt, gegen die sich Illias und Ringkriege wie ein Kindergeburtstag ausnehmen. Damit das Ganze nicht zu abgestanden wirkt, spielen auch biologische Waffen und Nanotechnologie tragende Rollen.

Doch Moers ist nicht nur ein überwältigender Fabulierer und spannender Erzähler, sondern auch ein hervorragender Zeichner mit einem ihm eigentümlichen, ganz unverwechselbaren Stil. Der Verlagswechsel hat dem aufwändigen und liebevollen Detailreichtum, mit dem die Bücher über Zamonien gestaltet sind, nicht geschadet. Wenn die Illustrationen insgesamt gegenüber dem Blaubär-Buch ein wenig zurücktreten, dann liegt das wohl auch daran, dass ein großer Teil der Ereignisse in der grafischen Darstellung kaum noch zu ertragen wäre.

Denn „Rumo“ gibt mit der Untenwelt dem bunten und lebensfrohen Kontinent Zamonien, den uns Käpt’n Blaubär herbeigeflunkert hat, nicht nur seine dunkle Seite bei, er lässt dieses Mal überall die Farbe Rot dominieren. Das Blutlied der Dämonenkrieger wird zur inoffiziellen Hymne: „Blut! Blut! Blut, das muss spritzen meterweit!“ Man sollte sich hüten, das Buch unbedacht den eigenen Kindern weiterzureichen und es stattdessen lieber selbst lesen.

SEBASTIAN DOMSCH

Walter Moers: „Rumo & Die Wunder im Dunkeln“. Piper, München 2003, 693 Seiten, 26,90 €