: Der Crashtest-Dummy
Geboren am 15. Dezember 1969 in Harderberg, Landkreis Osnabrück, aufgewachsen zwischen Teutoburger Wald und Wiehengebirge. Ausbildung, 1989 Abitur, danach Studium in Berlin sowie an der Deutschen Journalistenschule (30. Lehrgang) und an der Ludwig-Maximilian-Universität München; 1993 Studienaufenthalt in Birmingham, England.
Während der Schulzeit erste berufliche Erfahrungen bei der Schülerzeitung Folium sowie bei der Neuen Osnabrücker Zeitung; 1997 Redakteur beim Fachmagazin Werben & Verkaufen in München. Von Hamburg aus fester Freier des Medienressorts bei der Süddeutschen Zeitung und Hamburg-Korrespondent für den kress-Report. Für die Zeit Beiträge in der Kolumne „Offline“. 2001 verantwortlicher Medienredakteur und Gründungsmitglied der Redaktion der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung. 2004 Gründer des Bildblog. Eigener Blog auf www.stefan-niggemeier.de.
Auszeichnungen: 2003 Bert-Donnepp-Preis für Medienpublizistik; 2005 Grimme Online Award für Bildblog; 2005 Leuchtturm-Sonderpreis des Netzwerk Recherche e. V.; 2007 „Journalist des Jahres“ (ausgelobt vom Medium Magazin); 2007 Grimme Online Award für www.stefan-niggemeier.de; 2008 Markgräfler Gutedelpreis für Bildblog Literatur; 2008 Zapp! Merkwürdigkeiten aus der Fernsehwelt (mit Michael Reufsteck). Köln: vgs Egmont; 2005 Das Fernsehlexikon. Alles über 7.000 Sendungen von Ally McBeal bis zur ZDF-Hitparade (zus. mit Michael Reufsteck). München: Goldmann. Niggemeier ist ledig, er lebt in Berlin.
Milieus oder Seilschaften sind ihm einerlei, ja sogar zuwider. Stefan Niggemeier funktioniert so nicht. Deswegen ist er einer der unerschrockensten Journalisten der Republik
VON JAN FEDDERSEN
Der David der Medienwelt hat sein Büro in einer früheren Metzgerei. Nur wenige Schritte vom Spreeufer entfernt, mitten in jenem Kreuzberg, das bis zur Wende das Ende der westlichen Welt bedeutete. Inzwischen auferstanden aus Ruinen, ein wachsendes In-Viertel, gegenüber der neuen O2-Arena auf der anderen Seite des Flusses. Gleich im Parterre liegt das Büro, die Schreibtische stehen fast im Schaufenster – vor Einsicht nur notdürftig durch einen Streifen Milchglasfolie geschützt: Das ist die Denk- und Schreibzentrale von Bildblog.
Nichts im Raum weckt auch nur leiseste Fantasien von Kommandozentrale, von medialem Schlachtschiff oder gar von einem Geheimnis einer Kraft, die es aufnimmt mit im Zweifelsfall aller Medienwelt. Gemessen an den schnieken Räumlichkeiten des Goliath, der Bild-Zeitung, die nur vier Kilometer entfernt nahe dem Checkpoint Charlie siedelt, wirkt dieser Arbeitsraum wie eine gemütliche Besenkammer.
Stefan Niggemeier empfängt an diesem Morgen einen Hospitanten, wirkt irgendwie so entspannt wie irgendwie auch nicht zugehörig zu dem, was dieses Bildblog-Büro auch ist – Widerstand gegen den Springer-Journalismus. Er weiß, offenbar etwas konfus, nicht auf Anhieb das Passwort für den Computer und hinterlässt beim jungen Berufsanfänger, der seinen ersten Tag bei der Aufklärungsagentur gegen das mächtigste Boulevardmedium der Republik antritt, womöglich den Eindruck von ziemlicher Lockerheit.
Sieht so also die räumliche Oberfläche eines Engagements aus, das tausende von Bürgern erfreut, das den Bildblog mit monatlichen Klicks in siebenstelliger Höhe zum Marktführer der Blogosphäre macht und das den Axel-Springer-Konzern mehr als einmal ärgerte? Wird in diesem Parterreanwesen quasi fortgeführt, was Günter Wallraff in den 1970er-Jahren zu publizistischem Ruhm führte – die chronische Enthüllung der auflagenstärksten Zeitung der Republik, nur mit den Mitteln der elektronischen Kommunikation?
Das Bild von den Davids gegen die Goliaths – es will partout nicht trügen. Für diese Arbeit an der Idee des Journalismus, wie er ihn ausdrücklich versteht, ist Niggemeier vielfach ausgezeichnet worden, er wird unter Journalisten als Alphatier gehandelt, als Mann, auf dessen Stimme man im Konzert der öffentlichen Diskussion hören sollte.
Was sagt Niggemeier selbst über diese Zuschreibung? „Alphajournalist? Ich wäre kokett, wenn ich sagen würde, nein, dazu werde ich gar nicht gezählt oder das Label ginge an mir vorbei. Aber je größer die Etiketten, umso häufiger ertappe ich mich bei dem Gedanken, dass die Leute das gegen mich verwenden – und irgendwann irgendeiner merkt, dass ich auch nur mit Wasser koche. Der Niggemeier – ein Faker!“ Eine Angst, die viele Journalisten kennen mögen – und bei Niggemeier klingt es sogar ein wenig frivol. Er ist doch bekannt als sattelfester Rechercheur.
Aber er sagt: „Meine Irritation über mein Dasein als angeblicher Alphajournalist mag auch damit zu tun haben, dass es aus meiner Sicht so viele andere Journalisten gibt, die die Anerkennung viel mehr verdient haben, weil ihre Arbeit anstrengender oder wichtiger ist, weil sie mutiger sind, Kriegsreporter etwa oder investigative Journalisten. Das, was ich mache, ist leicht.“ Das Getue der journalistischen Stars, der Alphatiere des gedruckten oder gesendeten Beitrags, lässt er unkommentiert, er habe eine Meinung, äußere sie aber nicht. Was er tut, sei doch nur dies: Zeitungen lesen, Mails checken – eine Menge der Informationen, die er im Bildblog verarbeitet, bekommt er von Lesern oder von Kollegen per Mail gesteckt – und all die Bits und Bytes sortieren und so aufbereiten, dass das Publikum sie versteht. Ein monströses Unterfangen? „Ich komme morgens ins Büro und habe keinen Plan. Ich denke, es wird schon was zu arbeiten geben. Ich lese Zeitung, gucke meine Post durch. Dann fällt mir was ein. Und ich beginne zu schreiben.“ Was er macht, so sagt er, hat mit Aufmerksamkeit und Misstrauen zu tun. Aufmerksamkeit bei der Recherche und Misstrauen gegen Geschichten und Texte, die irgendwie unplausibel scheinen.
Niggemeier, 1969 geboren, in jenem Jahr, als Willy Brandt zum Kanzler gewählt wurde, ein Jahr nachdem die Studentenbewegung die Bild-Zeitung als Hassobjekt Nummer eins ausgemacht und „Enteignet Springer!“ gerufen hatte, erzählt bereitwillig, wie er dazu kam, sich mit dem Marktführer aller Boulevardmedien anzulegen. Im Jahr 2001 war das, als er sich für den Eurovision Song Contest in Kopenhagen akkreditiert hatte. Dort bekam er mit, dass das in der Bild-Zeitung publizierte Tagebuch der deutschen Sängerin Michelle keineswegs von ihr selbst verfasst wurde, sondern von Bild-Reporter Mark Pittelkau. Niggemeier schrieb das auf, für die Süddeutsche Zeitung. Die empörte Reaktion kam prompt. Später fuhr Pittelkau, offenbar immer noch verletzt, Niggemeier an, das hätte er niemals veröffentlichen dürfen, als Journalist schreibe man nicht böse über Kollegen. „Für den war ich der Böse, aus seiner Sicht hatte er nichts falsch gemacht.“
Den Gescholtenen traf der Zorn des Bild-Zeitungs-Kollegen nicht, er lacht, als er diese Anekdote erzählt. Denn das Berufsethos von Kollegen wie Pittelkau teilt Niggemeier keineswegs: „Ich verstehe mich nicht in diesem Sinne als Teil einer journalistischen Familie.“ Die Michelle-Geschichte aber ragt aus seiner Wahrnehmung heraus, weil er auf diese Weise direkt mitbekam, wie Bild mit Wirklichkeit umgeht. Mit Bildblog-Kompagnon Christoph Schultheis im Interview auf dem Webportal Planet Interview sagt Niggemeier: „Es gab nicht die eine Geschichte, bei der wir gedacht haben: Jetzt reicht’s! Es war eher eine wachsende Unzufriedenheit damit, wie oft in der Bild-Zeitung Sachen stehen, die in irgendeiner Weise falsch sind. Und ein stetiges Verzweifeln, wie wenig sich das, was in der Bild-Zeitung passiert, in anderen Medien wiederfindet.“
Eine Verzweiflung, die hinreichendes öffentliches Interesse fand. Sich an der Bild-Zeitung abzuarbeiten, sie zu entlarven, ist eine Königsdisziplin des kritischen Teils des schreibenden Gewerbes. Vielleicht war es einfach, mit einem Bildblog berühmt zu werden – und offenbar war es schwer, denn niemand vor ihnen hatte diese Idee. Niggemeier und Kollegen notierten jedenfalls auf Bildblog alles, was eben zu bemerken war. Da finden sich Hinweise auf falsche Altersangaben, geklaute Zitate oder andere Ergebnisse schlechter Recherche, aufgeschrieben in einer Tonlage, die zwischen Süffisanz, Sarkasmus, Ironie und ätzender Schärfe changiert. Aber, so beteuert Niggemeier, Bildblog verstehe sich völlig unideologisch. Es gebe eine Menge Bücher über die Bild-Zeitung, in denen immer das Gleiche stehe – wie scheiße diese Zeitung sei, um was für ein Drecksblatt es sich handele. Darauf komme es ihm nicht an, ein ästhetisches oder politisches Urteil möge sich jeder selbst bilden.
Wichtig sei ihm aber die Korrektheit, also das Mindeste, worauf es im journalistischen Handwerk ankomme. „Die Bild-Zeitung“, sagt er, „wurde doch eine Zeit lang abgetan“, als Phänomen, als nicht ernst zu nehmende Illustrierte für Erwachsene, als Trash mit hohem Amüsierfaktor, als Spiegel des Irren und Absonderlichen, galt aber zugleich auch als Nachrichtenmedium von Rang. „Mir ging es darum, diesen Mythos wenigstens anzukratzen.“ Dass man nicht mehr sagen könne, die Bild-Zeitung zu lesen zeuge vielleicht von schlechtem Geschmack, dafür könne man sich aber auf die Recherchen verlassen. „Stimmt aber nicht. Deshalb bescheiden wir uns mit den scheinbaren Details: nachzuweisen, dass gerade das nicht zutrifft.“
Inzwischen wird das Bildblog selbst von den Springer-Leuten ernst genommen. „Die reagieren auf uns mit einer gewissen Professionalität.“ Aber dann hängt er eine Begebenheit an, die die Nervosität der Goliaths andeutet: „Als bei einer Diskussion im ZDF, als ich einen kleinen Vortrag hielt, der Mann von Springer den Saal verließ, als ich zu sprechen anfing, hatte ich das Gefühl: ‚Irgendwas machen wir richtig.‘ “
Doch Niggemeiers Argusaugen konzentrieren sich längst nicht nur auf die publizistische Macht der Bild-Zeitung, die menschliche Existenzen zermörsern oder politische Stimmungen befördern kann. Selbst Henryk M. Broder, preisgekrönter Autor des Spiegels, ist vor Niggemeiers Kritik nicht sicher: „Da wichst zusammen, was zusammengehört“, äußerte sich Broder unwirsch, fühlte sich von Niggemeier offenbar persönlich getroffen. Gemünzt war dies auf eine Geschichte, in der nachgewiesen wurde, dass Broders Kampf gegen Antisemitismus, gegen vermeintliche oder wahre Israelfeinde sich aus Quellen bedient, die anrüchig sind, weil sie den Tatsachen nicht standhalten. Niggemeier wies lediglich nach, dass Broders Recherchen nicht stimmen – und der Inkriminierte glaubte, Niggemeier als Krümelsucher abtun zu können. Der Gescholtene wehrt sich: Großschreiber wie Broder meinten, dass man ihnen schon glauben wird, dass ihre Botschaft nicht unbelegt sein könne – „deshalb legen wir auch beim Bildblog vor allem Wert auf die Korrektur gerade der kleinen und oft auch großen Fehler“.
Hat er nicht Angst vor all den großen Namen – vor Springer, vor Broder, vor jenen, die einen Vitaminpromotor wie Hademar Bankofer beschäftigen, der medizinische Weisheiten verkündet, deren Haltlosigkeit Niggemeier ebenfalls enthüllte, auf dass der sogenannte Fernsehdoktor in der ARD nicht mehr praktizieren konnte? Nein, „Angst“, sagt er, „habe ich nur manchmal vor den Folgen meiner eigenen Veröffentlichungen, nicht vor den großen Namen“. Er sei damit „immer gut gefahren, die Dinge, die ich für wichtig hielt, auch zu sagen und aufzuschreiben. Zweifel, ob das, was ich mache, immer richtig ist, habe ich oft. Aber Angst, mich mit den Mächtigen anzulegen, eigentlich nicht.“ Das sei schon in der Schule so gewesen, als er sich als Mitglied der Redaktion der Schülerzeitung Folium mit der Nomenklatura seines renommierten Gymnasiums anlegte. „Meine Mutter hat mich immer gewarnt, leg dich doch nicht an, sei mal ruhig, aber am Ende habe ich immer doch das gemacht, was ich für richtig hielt. Und damit lag ich eigentlich immer richtig. Angst zu haben, lohnt sich nicht.“
Zumal ihn die – das ist ihm wichtig: nicht persönlich inspirierte – Feindschaft gegen die Bild-Zeitung in eine komfortable Position gebracht hat: Die journalistische Öffentlichkeit weiß um die Arbeit des Bildblogs – und so wird er vor möglichen Nachstellungen des Springer-Konzerns bewahrt. Niggemeier erzählt, anfänglich hätten sich Schultheis und er, die sich mit ihrem dritten Kollegen, Heiko Dilk, als Team Gleichberechtigter verstehen, gefragt, ob sie damit rechnen müssen, dass die Bild-Zeitung auf sie angesetzt werde, ob sie zum Beispiel versuchen würde, in ihrem Privatleben zu wühlen: „Ich weiß ja, wie die Bild arbeitet, wenn sie sich auf ein ‚Opfer‘ konzentriert.“ Sein Kompagnon Schultheis habe gut geschlafen, sagt Niggemeier, aber er habe „schon einige Nächte Muffe“ gehabt. Das ist vorbei: „Inzwischen schützt uns vermutlich auch unsere Bekanntheit.“
Nun ist er eine Berühmtheit – ein Nachfahr Günter Wallraffs im Geiste, in der Variante des elektronischen Zeitalters. Hat er sich genau das vorgenommen, damals, als er Journalist werden wollte? „Dass es inzwischen ein bisschen in der Medienwelt so ist, erstaunt mich immer noch. Und ich verstehe es nicht ganz. Weil das, was ich mache, mir leichtfällt.“ Er habe immer gewusst, dass er Journalist werden wollte. Als Kind sah er Dieter Kronzucker im Fernsehen und träumte, auch einmal als Auslandskorrespondent aus aller Welt zu berichten. Eine Alternative kam nur kurze Zeit infrage. Das war, als er in den 1970ern bei der „ZDF-Hitparade“ im Fernsehen Jürgen Marcus sah. So einer wie der wäre er auch gern geworden: Schlagersänger, „Eine neue Liebe ist wie ein neues Leben“ oder „Ein Lied zieht hinaus in die Welt“. Am Ende, die Kindheit war längst vorbei, erkannte er seine wichtigere Passion: „Ich bin dann doch lieber Journalist geworden.“
Der Band „Die Alpha-Journalisten 2.0. Deutschlands neue Wortführer im Porträt“ ist ein Update des 2007 erschienenen Buches „Die Alpha-Journalisten. Deutschlands Wortführer im Porträt“. Verändert haben sich vor allem die Medien selbst: Die 2.0-Generation des Journalismus arbeitet vornehmlich als Webkolumnist, Blogger und Onlinechef – und eher nebenberuflich als Blattmacher, Buchautor oder TV-Moderator. Damit, so erklärt der Verlag, „begleiten und gestalten die neuen Leitwölfe schon heute den fundamentalen Wandel zu einer neuen Journalismuskultur, die zunehmend von kommerziellem Konkurrenzkampf, 24-Stunden-Nachrichten und dem Zeitdruck zahlloser Internetangebote gekennzeichnet ist“.
Die „Alpha-Journalisten 2.0“ sind unter anderem Mercedes Bunz („Das Tornado-Mädchen), Matthias Matussek („King Kong“), Matthias Gebauer („Der Globetrotter“) und Katharina Borchert („Die Lokalmatadora“). Autoren der Porträts sind Kollegen der Alphajournalisten, wie Simone Schellhammer, Ben Schwan, Miriam Janke oder Christian Bartels.
Ob er mit seinem Beruf den Wünschen seiner Eltern folgt, weiß er nicht. Er denkt einen Augenblick nach und sagt: „Keine Ahnung, ich weiß es nicht. Aber ich glaube, die fanden immer, dass ich das, was ich mache, schon gut mach’. Dass ich meinen Weg gehe.“ Der führte ihn schon bald zur Süddeutschen Zeitung. Von Hamburg aus berichtete er über das Mediengeschehen – und zeichnete sich vom ersten Artikel an durch eine aufreizende Rücksichtslosigkeit aus. Ob Freund oder Feind: Niggemeier machte als Journalist, was ein Journalist zu tun hat – im Zweifelsfall mit niemandem befreundet sein, nicht klüngeln. Ihm seien Milieus, Szenen oder Seilschaften nicht nur vollkommen einerlei, sondern sogar zuwider. „Auf die Frage, wie ich funktioniere, würde ich den Satz sagen: Ich bin nicht wie ihr.“ Und: „Ich bin überall gern Beobachter, aber nirgendwo Mitglied. Bin in keinem Verein und keiner Partei, auch nicht im Netzwerk Recherche. Gehe ungern auf Partys, die angeblich wichtig sind, um Kontakte zu machen.“ Er versteht sich auch nicht als Teil der Blogger-Community, hält keinen systematischen Kontakt zu ihr – das wäre ihm schon wieder zu viel der Vereinsmeierei. Und er bemerkt, dass er sich überhaupt ungern in großen Menschenansammlungen aufhält. Nach einer Pause fügt er noch hinzu: „Ich bin eher jemand, der Distanz hält. Das ist für einen Journalisten wahrscheinlich keine schlechte Eigenschaft.“
Ein Luxusleben des Journalismus, dieses Nicht-abhängig-Sein, würde jetzt das Gros der Kollegen einwenden, wer könne sich das schon leisten. Wer so fragt, hat schon jeden ethischen Standard des Journalistischen relativiert. Niggemeier hält für simpel, was er tut. „Es gibt coolere Lebensläufe als meinen.“ Er achte doch nur darauf, dass die Maßstäbe nicht noch weiter verhunzt würden. Journalistische Arbeit dürfe nicht mit der von Werbeleuten verwechselt werden, sie sei keine Reklame. Er weiß, dass nicht viele Kollegen so scharf trennen können oder dürfen. „Meine größte Sorge ist, dass die Leute nicht mehr erkennen, was das ist: ein Journalismus, der nicht lügt, der unabhängig ist, der keine versteckte oder offene Promotion betreibt. Dass sie das nicht mehr vom Journalismus erwarten.“ Der nur von überprüften Fakten und nicht von abgeschriebenen Pressemeldungen lebt – der das Mediengewerbe höchstens auf einer philosophisch zu diskutierenden Ebene für einen Unterhaltungskomplex hält, zunächst aber, pathetisch gesprochen, vom Anspruch lebt, den Bürger zu informieren über das, was Sache ist. Der Hintergründe beleuchtet und darstellt.
Niggemeier hat, 39 Jahre alt, alle Trümpfe in der Hand – in puncto Unabhängigkeit. Angesehener Autor der Süddeutschen Zeitung, wohlinformierter Korrespondent des kress-Reports, Gründungsmitglied der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung, inzwischen ökonomisch von Zeilengeldzwängen unabhängiger Journalist. Er gilt als große Nummer. „Ob ich erreicht habe, was ich mir vorgenommen habe? Ich weiß es nicht. Vermutlich ja.“
Erstaunlicherweise sagt er schließlich, dass er zu seiner beruflichen Zukunft wenig zu Protokoll geben könne. „Bildblog für den Rest meines beruflichen Lebens zu betreiben, kommt mir, denke ich darüber nach, komisch vor. Ebenso gut könnte ich in ein paar Jahren wieder in einer Redaktion arbeiten – und wäre dann wieder jenen Zwängen und Vorteilen ausgesetzt, die eben in einer Redaktion so gelten. Über das, was kommen wird, mache ich mir keine Gedanken. Es wird sich schon was ergeben.“ Vorläufig nimmt er sich in der Tat eine Freiheit, die sich in seinem Selbstvertrauen ausdrückt, das journalistische Handwerk zu beherrschen. Das zeigt seine offenbar liebste Körperhaltung: Immer ein wenig zurückgelehnt, gespannt und zugleich wie ausgeruht, vertraut er auf das, was bisher auch war: dass es gut läuft. So leistet er sich, was bei Medienjournalisten als Haltung rar ist: Er schreibt über das Fernsehen aus der Sicht eines Menschen, der beruflich mit diesem Medium nichts zu tun hat. Weiß in fünfzig Zeilen über Jörg Pilawa ebenso ein Urteil zu fällen wie Kluges über den Charme der „Sendung mit der Maus“ zu sagen. Er hat ein Gespür für das Unfertige, das den Leser dennoch einzunehmen versteht, er geht auf Details ein, schreibt also nicht für die Kollegen, sondern für die Leser, die wiedererkennen möchten, was sie wie der Kritiker gesehen haben. Oder eben auch nicht: An Niggemeier reibt sich der Zuschauer gern, weil der Autor sich nicht anmaßt, klüger fernzusehen als der Fernseher selbst. Ihm ist, so gesehen, der Blick des Kindes noch eigen, das schnell Langeweile und übertriebene pädagogische Absicht als solche erkennt, das Spannung wünscht und gern erträgt und sich von Bildern und Botschaften bezaubern lässt. Niggemeier ist Medienkritiker und Zugucker in einem, einer, der sich nicht auf vorab Behauptetes einlässt, sondern guckt und dann schreibt, im Guten wie im weniger Gelungenen.
Der leidenschaftliche Blogger – „Die kurze Form erlaubt schnelles Arbeiten“ – sträubt sich selbst vehement gegen die Stilform des Essays, die lang ausgearbeitete Grundsätzlichkeit. Warum? Niggemeier erklärt es unter anderem mit Bequemlichkeit. Texte besinnlich-essayistischer Qualität müsse er ohnehin nicht schreiben. Er habe jedenfalls nicht das Gefühl, dass es in dieser Hinsicht ein Vakuum gebe. Er darf als Journalismusromantiker verstanden werden, als einer, der sich nicht vorschreiben lassen will, was zu gefallen hat und was nicht: ein Gut, das Zeitungen wie die SZ oder die FAS schätzen. Und er wird seiner nachfühlbaren Schreibe wegen ganz besonders geschätzt. Einer, der anschaulich textet, der ohne Geschnörkel und Bildungshuberei in Bildern arbeitet und dabei auf Präzision in der Beobachtung setzen kann. Der es fertigbringt, in einem hundert Zeilen kurzen Text über die Querelen in der SPD um deren früheren Parteichef Kurt Beck die Mechanismen des Mediengewerbes zu skizzieren: einer, der davon lebt, Personen nieder- und hochzuschreiben, auf dass den Journalisten selbst nicht langweilig werde. Niggemeier – ein bisweilen begnadeter Erläuterer. Ein Idealist, streng genommen, der immer noch die Welt und die Erzählungen über sie begreifen will. Und einer, der möchte, dass diese Weise des Reflektierens nicht gänzlich an Geltung verliert.
Nüchtern sagt Stefan Niggemeier, dass die Welt des elektronischen Netzes wichtiger wird, zuungunsten gedruckter Medien. Die „Zeitung wird über kurz oder lang zum Nischenprodukt. Selbst der britische Guardian, der vorzüglich kann, was ich mir wünsche, verliert an Auflage. Das Internet wird wichtiger, mit allem Schrott, der sich im Netz findet. Aber auch all der Qualität und Vielfalt, die das Medium bietet.“ Er sagt dies ausgesprochen kühl, räumt aber ein: „Vielleicht sehe ich das zu apokalyptisch“, im Hinblick auf die Verlage, die im Internet erst recht kaum oder kein Interesse am Journalismus hätten. „Es könnte ja sein, dass alles wieder besser wird, dass die Leser sich wieder mehr für Nachrichten interessieren. Es würde mich freuen.“
Ab und an sieht man auf seiner eigenen Website, für die es keine inhaltlichen Grenzen gibt, dass Stefan Niggemeier über ein Gemüt verfügt, das empfindsam tickt. Fährt er in die Ferien, stellt er seinen Blog ab – die Rechtsprechung macht es nötig, weil er sonst nicht kontrollieren kann, dass niemand presserechtlich anstößige Inhalte einstellt. Vor seinem letzten Urlaub fanden sich Fotografien von Schafen aus Wales auf seiner Website. Ein Leser schrieb dazu: „Glück ist ein Abend am Deich mit Wollfett an den Händen, ein Schaf, das sich an einen geschmiegt hat, nicht schnurrend, aber zufrieden geräuschvoll kauend.“ Niggemeier freut sich über solche Post. Ein Journalist, der sich berührbar zeigt. Es gibt in der Branche nicht viele, denen man solche Sekunden des Nicht-abgebrüht-Seins abkaufen möchte. Irgendwie traut man Niggemeier zu, dass er zu ihnen gehört.
JAN FEDDERSEN, Jahrgang 1957, ist Redakteur im taz.mag. Der Text dieser Seite ist ein Vorabdruck aus dem am 23. März erscheinenden Band „Die Alpha-Journalisten 2.0“, hg. von Stephan A. Weichert und Christian Zabel. Unter Mitarbeit von Leif Kramp. Köln: Herbert von Halem Verlag