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Archiv-Artikel

Vergewaltigung: Alle haben weggeguckt

ZeugInnen rechtfertigen sich vor Gericht dafür, nicht eingegriffen zu haben: „Wir dachten, die sind betrunken“

Heide/Meldorf taz ■ Sie haben verschämt weggeguckt, statt der Situation ihre Aufmerksamkeit zu schenken. Ein kurzer Blick, die schnelle Entscheidung: Die sind betrunken, das geht uns nichts an. Mehrere PassantInnen liefen am Himmelfahrtsabend in der Heider Einkaufszone an der 14-jährigen Vanessa M. vorbei, als diese vom 19-jährigen Vitali S. sexuell genötigt und – so die Anklage – zu „beischlafähnlichen Handlungen gezwungen wurde“. Vor dem Jugendschöffengericht Meldorf (Kreis Dithmarschen) betonten die PassantInnen gestern unisono, die Situation nicht erkannt zu haben: „Wenn jemand auf der Straße liegt, denkt man doch, dass er betrunken ist“, sagte die 19-jährige Inga U. aus.

Alle ZeugInnen hat die Polizei ohnehin nicht ermittelt. Unbekannt geblieben ist eine ältere Frau „mit roter Jacke“, die sich kaum auf ein Verkennen der Situaition hätte berufen können: Vanessa M. hatte sie direkt angesprochen und um Hilfe gebeten, als sie sich gegen die Zudringlichkeiten von Vitali S. nicht länger wehren konnte. Auch einige Partygäste, die aus einem Fenster gegenüber des Tatorts die Vergewaltigung beobachtet haben sollen, konnten nicht namentlich ermittelt werden. „Da haben Leute auf der Fensterbank gesessen und auf das Paar am Boden runtergeguckt“, so Inga U.

Sie selbst und ihre Schwester, mit der sie gegen 23 Uhr durch die Einkaufsstraße kam, haben eingeräumt, über die außergewöhnliche Situation nur verächtlich die Nase gerümpft zu haben. „Was sind denn das für welche?“, hätten sie sich gefragt – und von der sexualisierten Gewalt erst erfahren, als Vanessa M. Minuten später auf dem Fahrrad an ihnen vorbei gefahren kam und schrie: „Warum habt ihr mir nicht geholfen? Ihr habt es doch genau gesehen.“

Vitali S. leugnet die Vergewaltigung, gesteht aber, die 14-Jährige über längere Zeit immer wieder bedrängt, festgehalten und gegen ihren Willen geküsst zu haben. Er ließ sich auch nicht davon abhalten, dass immer wieder Leute vorbeikamen und Vanessa M. um Hilfe rief. Zum Aufhören gezwungen wurde er nicht, sagt Vitali S.: „Da gingen Leute vorbei, aber die haben sich nicht um uns gekümmert.“ Der Prozess wird fortgesetzt.

ELKE SPANNER