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Archiv-Artikel

Misstrauen und alte Häuser

AUS ISTANBULJÜRGEN GOTTSCHLICH

„Die Leute glauben einfach nicht, dass sie etwas geschenkt bekommen. Alle denken, an der Sache muss ein Haken sein.“ Die Architektin Aysegül Özer schüttelt den Kopf, wenn sie erzählt, auf welche Schwierigkeiten das Projekt einer Stadtteilsanierung im historischen Teil Istanbuls stößt. „Wir sind ein Pilotprojekt, öffentlich geförderte Sanierung ist hier bislang völlig unbekannt.“ Tatsächlich ist es das erste Mal überhaupt, dass in der Türkei eine systematische Stadtteilsanierung stattfindet. Möglich wurde das Projekt durch die Europäische Union. Nachdem die Unesco die historischen Viertel Fener und Balat, direkt am Goldenen Horn gelegen, schon Mitte der 80er-Jahre zum Weltkulturerbe erklärt hatte, stellte die EU Anfang 2003 7 Millionen Euro für ein vierjähriges Sanierungsprojekt zur Verfügung.

Die beiden Viertel, die bis in die 50er-Jahre überwiegend von Angehörigen der griechischen und jüdischen Minderheit bewohnt wurden, sind in den letzten 40 Jahren ziemlich heruntergekommen. „Die alteingesessene Bevölkerung hat das Viertel bis Ende der 50er-Jahre weitgehend verlassen“, erzählt Aysegül Özer. Viele Juden sind nach Israel ausgewandert, und viele Griechen sind als Reaktion auf die Türkenverfolgung auf Zypern aus Istanbul vertrieben worden. Seitdem wurden Fener und Balat zu Durchgangsstationen für Fischer vom Schwarzen Meer und kurdische Bauern und Nomaden, die es in Massen in die Großstadt trieb, und die von hier aus ihren sozialen Aufstieg betreiben.

Wer etwas genauer hinschaut, erkennt in Balat auch heute noch eine Vielzahl von Hinweisen auf die ursprüngliche Einwohnerschaft. Viele Häuser waren mit dem jüdischen Stern geschmückt und etliche Synagogen sind bis heute intakt. Die griechischen Ursprünge von Fener sind sowieso unübersehbar. Hoch über dem Viertel thront das ehemals größte griechische Gymnasium Istanbuls, ein riesiger roter Klinkerbau, den vor rund 100 Jahren fast 2.000 Schüler besuchten. Bekannt aber ist Fener vor allem als Sitz des Patriarchen der orthodoxen Kirche. Patriarch Bartholomäus gilt bis heute als spirituelles Oberhaupt der gesamten Orthodoxie. In Fener steht die einzige orthodoxe Kirche, die seit byzantinischer Zeit ununterbrochen als Gotteshaus genutzt wird.

„Das Patriarchat“, erzählt die Architektin Aysegül Özer lachend, „ist auch ein Grund für das Misstrauen vieler Leute. Manche glauben, die EU finanziere hier den Aufbau eines orthodoxen Vatikans, und am Ende, nach der Sanierung, müssten sie alle ihre Häuser verlassen.“ Es war jedenfalls viel Überzeugungsarbeit notwendig, damit in diesem Sommer die Arbeit an den ersten 26 Häusern anfangen kann.

Das es von Januar 2003, als die Verträge unterschrieben wurden, bis jetzt gedauert hat, um mit der konkreten, sichtbaren Arbeit zu beginnen, hatte aber nicht nur mit den Vorbehalten der Bewohner und Hausbesitzer zu tun, sondern vor allem mit dem bürokratischen Vorlauf, der solchen Projekten eigen ist.

Jeden Schritt genehmigen

Senem Kadioglu und David Michelmore sind die beiden Leiter und Koordinatoren des Projekts. Kadioglu vertritt die Stadtverwaltung des Bezirks Fatih, zu dem die beiden Viertel gehören. David Michelmore ist Konservator und Angestellter von IMC-Consulting, die für die EU das Projekt betreut. Politisch verantwortlich sind aber auf der einen Seite Brüssel, auf der anderen der Staatssekretär im Finanzministerium in Ankara. Jeder Schritt muss von diesen beiden Seiten genehmigt werden. Während Senem Kadioglu angesichts wechselnder Bezirksbürgermeister und Staatssekretäre damit beschäftigt ist, die politische Unterstützung kontinuierlich zu sichern, müht David Michelmore sich, die Mittelvergabepraxis der EU und die türkische Wirklichkeit miteinander in Einklang zu bringen.

Die EU hat für das Projekt ehrgeizige Vorgaben gemacht. Mit insgesamt 7 Millionen Euro sollen rund 200 historische Gebäude saniert werden, ein Sozialzentrum im Viertel aufgebaut und der Markt von Balat restauriert werden. Rund 1,8 Millionen Euro werden für Personal- und Verwaltungskosten gebraucht, weshalb die verbleibenden gut 5 Millionen angesichts der Vorgaben nicht gerade üppig sind.

„Für ein Gebäude stehen im Schnitt 25.000 Euro zur Verfügung“, rechnet David Michelmore. Damit müssen zumindestens das Dach, die Fassade und die Decken restauriert oder repariert werden. Zwar ist Arbeitskraft im EU-Maßstab in Istanbul billig, aber Brüssel verlangt von jedem Auftragnehmer den Nachweis, dass die Firma wenigstens seit fünf Jahren Steuern und Sozialleistungen gezahlt hat und eine Gewährleistung für die kommenden fünf Jahre übernehmen kann. Die kleinen Handwerksläden im Viertel, die an den Aufträgen sinnvollerweise möglichst umfangreich beteiligt werden sollen, können diese Bedingungen in aller Regel nicht erfüllen. Deshalb werden nun Verträge mit großen Firmen gemacht, die sich verpflichten, Aufträge an die Kleinen zu vergeben.

Das dauert und verteuert die Angelegenheit. „Außerdem lässt sich Brüssel die Planung für jedes Haus schicken. Alles muss zentral abgesegnet werden“, stöhnt Aysegül Özer. „Wenn wir die Pläne fertig haben, dauert es sechs Monate, bis wir sie aus Brüssel zurückbekommen.“

Es begann mit Privatinitiative

Trotzdem ist das Projekt für das historische Istanbul ein gewaltiger Schritt nach vorn. Bis in die 60er-Jahre gab es praktisch kein Bewusstsein für den Wert des historischen Erbes. Unbekümmert wurden alte osmanische Viertel abgerissen und durch ästhetisch wertlose Apartmentblocks oder breite Straßen ersetzt. Parks und Paläste verkamen. Erst durch private Initiativen, unter anderem durch den damaligen Vorsitzenden des türkischen Automobilclubs, Celik Gülersoy, besann man sich nach und nach auf den Erhalt des alten Bestandes. Denkmalschutzvorschriften wurden eingeführt, der historischen Kern und die Siedlungen entlang des Bosporus streng geschützt. Das hatte jedoch häufig zur Folge, dass die Bewohner die Mittel für den Erhalt und die Instandsetzung eines denkmalgeschützten Hauses nicht mehr aufbringen konnten, und die Gebäude erst recht verfielen – auch deshalb, weil Spekulanten nur dann profitabel neu bauen konnten, wenn die alten Häuser gänzlich zusammen gebrochen waren.

„Der Erhalt der historischen Substanz“, sagt denn auch David Michelmore, „ist ohne den Einsatz öffentlicher Mittel praktisch nicht möglich.“ Die aber hat die Türkei bislang nicht aufbringen können. In Istanbul ist deshalb vieles unwiederbringlich verloren gegangen, aber viel ist auch noch zu retten.

Holz gegen Kunststoff

In Balat und Fener gibt es noch ganze Straßenzüge im osmanischen Stil, die noch nicht durch hässliche Neubauten entstellt sind. Doch die meisten Erker sind bedrohlich abgesackt. Und viele Gebäude wurden durch den Einbau von Fenstern mit Kunststoffrahmen oder Haustüren aus Blech verschandelt. „Die meisten Besitzer sind aber ganz stolz auf ihre Reparaturen und weigern sich nun strikt, diese Fenster wieder auszubauen, auch wenn sie von uns originalgetreue Holzfenster geschenkt bekommen“, erzählt die Architektin Özer. „Das ist einer der Gründe, warum Hausbesitzer sich ernsthaft weigern, ihr Haus in das Programm aufnehmen zu lassen.“ Ein anderer Grund ist, dass jeder sich verpflichten muss, nach einer Restaurierung mit EU-Geldern sein Haus mindestens fünf Jahren nicht zu verkaufen. Damit will die EU Spekulationsgewinne verhindern, während viele Bewohner ja gerade auf den Wertzuwachs hoffen. „Fünf Jahre ist für die Leute hier eine unwahrscheinlich lange Zeit“, sagt Aysegül Özer.

Trotz aller Probleme sind nun an einigen Häusern die Plaketten des „Fener-Balat-Projekts“ der EU angebracht und die Arbeit wird bald beginnen. In einem großen historischen Gebäude in Fener soll das Sozial- und Stadtteilzentrum aufgebaut werden. „Es geht nicht nur um die Gebäude“, sagt David Michelmore, „die Lebensumstände für die Leute sollen insgesamt verbessert werden.“ Dazu gehören Alphabetisierungskurse für Frauen, Schulhilfe für Kinder und Kurse, in denen ortsansässige Handwerker lernen können, was Restaurierung eines Hauses bedeutet. Mangelnde Ausbildung und Armut sind die größten Probleme am Goldenen Horn. „Wenn wir für die Leute nichts tun und die nicht lernen, für ihr Viertel Verantwortung zu übernehmen, würden die Häuser auch nach einer Sanierung schnell wieder verkommen“, meint Koordinator Michelmore. Alles zusammen ein großes Programm für ganze 7 Millionen Euro.