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Archiv-Artikel

Die Notlüge hat Konjunktur

Bundesrat und schwache Wirtschaft – oft gebrauchte Ausreden von Rot-Grün, rechtfertigen können sie aber nicht viel

Das ist kein schöner Gegner, nein. Wie er auf dem Tisch herumhaut. Wie er in der Wut aus seinen aknevernarbten Backen einen Vulkan von Lippen wachsen lässt. Wie er in den Saal schreit. So schauspielerte einst der hessische Ministerpräsident Roland Koch (CDU) im Bundesrat, weil ihm die Zuwanderung nicht passte. Da fällt es naturgemäß leicht, den brutalstmöglichen CDU-Landesfürsten zum Bösewicht des Föderalismus zu küren. Dabei sind es die Machtzocker von der SPD, die systematisch die Axt an die zweite Kammer gelegt haben.

Ein sozialdemokratisches Triumvirat hat in den letzten Jahren den Bundesrat zum Instrument der Macht verwandelt. Der damalige Feldkommandeur der SPD, Oskar Lafontaine, baute 1997 im Bundesrat eine Sperrmauer gegen Helmut Kohls letzten (und einzigen) Gestaltungsversuch einer Steuerreform auf. 1999 dann erkaufte sich Kanzler Gerhard Schröder (SPD) die Stimmen der bettelarmen Länder Berlin und Brandenburg für seine Steuerreform. Er stahl dabei der Union eine sichere Bundesratsmehrheit. Und 2001 – bei der Abstimmung über die Zuwanderung – erschien Berlins Regierender Klaus Wowereit (SPD) im preußischen Herrenhaus als abgefeimter Sitzungsleiter. So kreativ wie fragwürdig wertete er die Stimme Brandenburgs als Pro – obwohl sie eher ein Contra war.

Die Sozi-Machiavellisten haben damit die Unionsleute dreimal in die Kulisse der Macht gezwungen – und ganz nebenbei die jüngere Politikwissenschaft Lügen gestraft. Die ging bis dato davon aus, dass politische Parteien bei der Entwertung der zweiten Kammer die zweite Geige spielen. Wichtiger sei der so genannte asymmetrische Föderalismus in Deutschland – der unfaire Wettbewerb zwischen wirtschaftlich starken und schwachen Bundesländern.

Lafontaine, Schröder und Wowereit haben diesen politologischen Lehrsatz widerlegt. Sie nutzten den Bundesrat zum puren Instrument des Machterwerbs und -erhalts einer Partei, der SPD. Und der Startschuss für den Niedergang des Föderalismus fiel 1997.

Die Union, dreimal blamiert, zeigt sich längst als gelehriger Schüler. Was Lafontaine einmal konnte, kann sie inzwischen jedes Mal: blockieren. Mit den verheerenden Wahlniederlagen der SPD in Hessen und Niedersachsen im Februar 2003 (fünf Monate nach dem hauchdünnen SPD-Sieg bei der Bundestagswahl) hat sie einen neuen Namen im politischen System: Vetomacht im Bundesrat.

Das föderale Stop-and-go hat sich inzwischen zur üblichen Verkehrsform entwickelt – auch außerhalb des Bundesrats. Weil die Union drinnen immer blockiert, schafft die SPD den nächsten Präzedenzfall und mischt sich als Bundesmacht nun offen in die Kompetenzen der Länder ein. Sie spendiert Geld für Ganztagsschulen und Elite-Unis. Das ist sachpolitisch sinnvoll. Aber es steigert verfassungspolitisch die Unruhe. Denn die Länder, selbst SPD-regierte, unternehmen nun auch gegen das Sinnvolle, was sie einst im Bundesrat von ihrem großen Vorbild Lafontaine lernte: verzögern, verwässern, blockieren.

CHRISTIAN FÜLLER

Die Asienkrise war gerade am Abklingen, die New Economy versprach mit ihren enormen Produktivitätsschüben schier endloses Wachstum. So war die Lage, als Rot-Grün 1998 ans Ruder kam. Kein Wunder, dass Gerhard Schröder sich sicher fühlte, als er sein Schicksal mit dem Schaffen von mehr Jobs verknüpfte.

Noch nie konnte eine Regierung der Versuchung widerstehen, einen guten Konjunkturverlauf als ihr Werk darzustellen. Doch Weltwirtschaft, Schuldenlast und EU-Stabilitätspakt setzten der Politik enge Grenzen.

Zunächst schien alles gut zu laufen. Unter dem Applaus der Öffentlichkeit beschloss die Koalition ihren Sparkurs und brachte die großzügigen Steuerreformen auf den Weg. Die Gelegenheit schien günstig: 2,6 und 2,8 Prozent, so lauteten die Wachstumsprognosen der Institute für 2000 und 2001. Raten, die heute unerreichbar scheinen. Die Arbeitslosigkeit werde deutlich fallen, hieß es. Und es sah so aus, als würde es ewig so weitergehen.

Doch als die Institute im April 2000 noch solche Wachstumsraten verkündeten, bröckelten an den Weltbörsen bereits die Kurse: Die Aktienblase platzte. In heftigen Schüben verreckten unzählige der umjubelten Start-ups, verloren Aktionäre haufenweise Geld. Ende 2001 war die New Economy Geschichte. Statt um 2,6 Prozent wuchs die Wirtschaft 2000 bloß um 0,8 Prozent, 2001 gar nur um 0,2. Denn weitere Nackenschläge folgten: der 11. September, der Krieg in Afghanistan. Später der Sars-Erreger, Irakkrieg und die Ölpreisschocks. Natürlich musste Schröder 2002 mit höherer Arbeitslosigkeit in die Wahl gehen.

Schon frühere Regierungen hatten Wirtschaftskrisen zu meistern. Doch Rot-Grün steckt in einer besonderen Zwickmühle: Schuld sind die Wiedervereinigung und der Euro.

Die Wiedervereinigung wurde vor allem über Kredite und die Sozialversicherungen geschultert. Die Verschuldung stieg in den Neunzigern doppelt so schnell wie in den Achtzigern – und lastet schwer auf dem Etat. Die Kofinanzierung über die Sozialsysteme ließ die Sozialabgaben ins Unerträgliche anwachsen. Das und nicht der Kindermangel lastet heute auf den Sozialsystemen. Das demografische Problem kommt in einigen Jahren noch obendrauf.

Noch heute muss der Westen des Landes nach Schätzungen des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) 20 bis 25 Milliarden Euro über die Sozialkassen in den Osten transferieren – und weitere 25 Milliarden Euro direkt. Das entspricht rund 3 Prozent der Wirtschaftsleistung des Westens.

Während die hohen Sozialabgaben die „Binnennachfrage absaugen“, wie es DIW-Konjunkturforscher Gustav Horn formuliert, ist die höhere Schuldenlast vor allem in Verbindung mit dem Stabilitätspakt „ein Hemmnis“ – dadurch, so Horn, „muss die Konsolidierung um so härter ausfallen“. So „lähmt nun“ der 1999 eingeführte Euro über die Maastricht-Kriterien die staatliche Finanzpolitik. Er zwang die Regierung, in die Krise hinein zu sparen – und damit die Konjunktur weiter abzuwürgen.

Ausgerechnet die Einnahmeausfälle durch die Steuerreform – mit der letzten Stufe 2005 werden es 50 Milliarden Euro jährlich sein – bringen die Staatsfinanzen nun endgültig an den Rand. Die öffentlichen Investitionen werden Jahr für Jahr gekappt. Das Ergebnis: Verfallende Infrastruktur, wenig Geld für Bildung – laut Finanzexperte Dieter Vesper vom DIW „ein Wachstumshindernis ersten Ranges“. Und während die Sozialreformen erst auf lange Sicht wirken, bremst die daraus resultierende Sparneigung der Bürger die Konjunktur sofort.

Es ist deshalb etwas unterkomplex, die derzeitige Wachstumsschwäche und die Haushaltslöcher allein bei Rot-Grün abzuladen. Was nicht automatisch heißt, dass die Regierung eine gute Wirtschaftspolitik macht. Oder etwas dazulernen würde. Kaum besserten sich Anfang dieser Woche die Konjunkturaussichten, heißt es aus der Koalition schon wieder, man habe „die Weichen für mehr Wachstum offenbar richtig gestellt“ (SPD-Fraktionsvize Ludwig Stiegler). Dabei erholt sich bloß die Weltwirtschaft.

MATTHIAS URBACH