: „Schönen Tag noch“
Die unter Dopingverdacht stehende Marion Jones verpasst die Olympia-Qualifikation über 100 Meter
SACRAMENTO taz ■ Marion Jones war Zeit ihres Lebens immer lieber von Männern umgeben als von Frauen, schon als Mädchen war das so, aber auf die Gesellschaft vom Samstag hätte sie vermutlich gerne verzichtet: ein Polizist vor und einer hinter ihr, links und rechts ein Beschützer in Zivil. So versuchte sie durch eine Menschenmasse zu kommen, die sie nicht gehen lassen wollte ohne eine Erklärung. Die seit einiger Zeit auch von Doping-Verdächtigungen umschwirrte Marion Jones hatte nach dem 100-Meter-Finale bei der amerikanischen Olympia-Ausscheidung der Leichtathleten in Sacramento ja Auskunft geben wollen über den Stand der Dinge. Sie hatte wohl damit gerechnet, sich für die Olympischen Spiele in Athen zu qualifizieren als eine der ersten drei und somit etwas Erfreuliches berichten zu können. Aber die ersten drei waren andere: LaTasha Colander (10,97 Sekunden), Torri Edwards (11,02) und Lauryn Williams (11,10). Jones war Fünfte (11,14), und alles, was sie den Journalisten danach zu sagen hatte, war: „Wenn ich mit euch rede, schreibt ihr negative Sachen über mich. Wenn ich nicht mit euch rede, schreibt ihr auch negative Sachen. Da rede ich lieber nicht mit euch und verbringe die Zeit mit meinem Sohn. Schönen Tag noch.“ Sprach’s und brauste davon in einem kleinen Golfwägelchen.
So endete also der zweite Tag der US-Trials mit der ersten Überraschung, der verpassten Qualifikation der Olympiasiegerin von Sydney 2000 über 100 Meter. Marion Jones kann sich zwar noch im Weitsprung und über 200 m qualifizieren, auch Einsätze in den Staffeln sind möglich, aber die 100 m waren immer ihre leichteste Übung gewesen. Da hat sie eine Bestzeit von 10,65 Sekunden und in den Jahren zwischen 1997 und 2002 eine Siegesserie hingelegt, die nur einmal unterbrochen wurde, bei der WM 2001 in Edmonton von Shanna Pintusewitsch-Block aus der Ukraine – und die wird inzwischen ebenfalls verdächtigt, gedopt gewesen zu sein mit dem damals nicht nachweisbaren Steroid THG. Bei ihrem Olympiasieg war Marion Jones jedenfalls noch 37 Hundertstelsekunden schneller gewesen als die nächstbeste Sprinterin – einen so großen Vorsprung hat es im letzten halben Jahrhundert nicht gegeben bei Olympia.
Dass die einstige Vorläuferin nur noch Mitläuferin sein würde nach ihrer Babypause im vorigen Jahr, hatte sich vor drei Wochen abgezeichnet, als Marion Jones beim Meeting in Eugene ebenfalls nur Fünfte geworden war, in 11,12 Sekunden. Die Ehrfurcht vor ihr war offenbar dahin, LaTasha Colander sagte jedenfalls: „Ich habe sie nicht wahrgenommen, ich habe mich auf mich selbst konzentriert.“ Es sei ja nun nicht mehr so, „dass alle anderen nur noch um die Plätze zwei und drei kämpfen“, bestätigte Jones’ langjährige Rivalin Inger Miller, die im Halbfinale ausschied und beobachtet hatte: „Marion ist nicht in der Form, in der sie früher war.“ Zwar hatte Jones das Halbfinale gewonnen in 11,14 Sekunden, aber im Finale hatte sie nichts mehr zuzulegen – nach siebzig Metern fiel sie zurück. LaTasha Colander hingegen beeindruckte mit einem starken Finish, wie man es früher von Jones gewohnt war.
Die Ironie der Ereignisse will es, dass Colander von Trevor Graham trainiert wird, dem Mann, von dem sich Jones Ende 2002 getrennt hat und dem sie wenig Gutes nachsagt in ihrer Biografie „Life in the fast lane“, die vorige Woche erschien. Die dreifache Sprint-Olympiasiegerin macht Graham quasi für ihre schlechte Weitsprung-Technik verantwortlich, wegen der sie in Sydney das vierte Gold verpasste. LaTasha Colander indes schwärmt von den Fähigkeiten des Jamaikaners. Seit sie in dessen Obhut ist, seit 1999, hat sich ihre Karriere ja auch rasant entwickelt: Vor vier Jahren gewann sie ebenfalls in Sacramento die Olympia-Ausscheidung über 400 Meter in 49,87 Sekunden, und nach ihrem Umstieg auf die kurze Sprintdistanz hat er sie nun abermals zu einer Bestzeit geführt.
Dabei genießt Trevor Graham keinen guten Ruf mehr. Er soll derjenige gewesen sein, der die amerikanischen Doping-Fahnder im vorigen Sommer auf die Existenz des bis dahin unbekannten THG aufmerksam gemacht und damit den aktuellen Dopingskandal ausgelöst hat. Eine von Grahams Athletinnen, die 400-Meter-Läuferin Michelle Collins, gehört zu den Beschuldigten im Balco-Skandal, benannt nach der Herstellerfirma des illegal produzierten THG. Graham kooperiert bei den Ermittlungen mit den staatlichen Behörden, ebenso wie Jones’ Exmann C. J. Hunter. Der fiel vor Olympia 2000 als massiver Dopingsünder auf und weilte zufällig an diesem Freitag zwecks weiterer Aussagen in San Francisco. Ob Marion Jones deswegen am Samstag weiche Knie bekommen hat, kann man nur vermuten. Sicher ist, dass sie schon früher nicht immer von der besten männlichen Gesellschaft umgeben war. JOACHIM MÖLTER