: Abwandern oder verarmen
Lässt Hartz IV den Osten veröden? Experten erwarten neue Arbeitsmarktprogramme – trotz Kanzler-Dementis
BERLIN taz ■ Die Kaufkraft wird sinken. Die Langzeitarbeitslosen wird man nicht vermitteln können. Und die Kommunen werden draufzahlen. Aus diesen drei Gründen haben die meisten ostdeutschen Regierungschefs am Freitag parteiübergreifend gegen Hartz IV gestimmt. Zwar dürfte sowohl Brandenburgs Ministerpräsident Mathias Platzeck (SPD) als auch Sachsens Regierungschef Georg Milbradt (CDU) dabei an den 19. September gedacht haben. An diesem Tag werden beide Landesparlamente neu gewählt. Doch auch Thüringen, das gerade eine Wahl hinter sich hat, und Sachsen-Anhalt haben gegen Hartz IV gestimmt, Mecklenburg und Berlin enthielten sich.
„Wohin wollen sie die Leute in Schwedt auch vermitteln?“, sagt Helmut Seitz, Wirtschaftsexperte an der Technischen Universität Dresden. Mit Hartz IV will die Bundesregierung vor allem erreichen, dass Arbeitslose schneller einen Job kriegen. Doch in Ostdeutschland kommen auf einen freien Job schätzungsweise 25 bis 28 Arbeitslose. Noch schwerer wird es für all jene, die länger als ein Jahr arbeitslos sind – die etwa 800.000 ostdeutschen Langezeitarbeitslosen. Denn die sind meist schwerer vermittelbar. „Innerhalb von Ostdeutschland werden diese Menschen keine Stellen finden“, sagt Seitz, „sie müssten also in den Westen abwandern.“ Doch den Ost-Ländern laufen schon jetzt die Einwohner weg, Hartz IV würde die Flucht in den Westen noch beschleunigen.
Des Weiteren gibt es im Osten im Verhältnis zu den West-Bundesländern sehr viel weniger Empfänger von Sozialhilfe als im Westen. Dafür bekommen mehr Menschen Arbeitslosenhilfe. Werden am 1. Januar 2005 die beiden Gelder zum Arbeitslosengeld II zusammengelegt, ändert sich für die Westländer mit ihren vielen Sozialhilfeempfängern praktisch nichts, weil deren Kaufkraft quasi gleich schlecht bleibt. Empfänger von Arbeitslosenhilfe haben jedoch weniger im Portmonee. „Deshalb wird die Kaufkraft im Osten erheblich nachlassen“, sagt Hermann Ribhegge. Der Wirtschaftsexperte der Europa-Universität in Frankfurt (Oder) kann zwar keine genauen Zahlen nennen. Aber die Landesregierung von Sachsen-Anhalt schätzt den Verlust auf etwa 220 Millionen Euro im Jahr. „Die finanziellen Auswirkungen dieses Gesetzes wird der Osten überproportional stärker spüren als die alten Bundesländer“, sagt Ribhegge.
Auch wegen der finanzschwachen ostdeutschen Kommunen haben die Regierungschefs gegen Hartz IV gestimmt. Zwar müssen die Kommunen die Sozialhilfeempfänger nicht weiter versorgen und sparen dadurch deutschlandweit wohl 2,5 bis 3 Milliarden Euro. Doch weil es im Osten nur 200.000 Sozialhilfeempfänger gibt, sparen Brandenburg, Sachsen und Sachsen-Anhalt zu dritt bei diesem Posten nur 210 Millionen Euro jährlich ein, Nordrhein-Westfalen dagegen allein schon etwa 450 Millionen Euro. „Außerdem müssen die Kommunen nach Hartz IV das Wohngeld zahlen“, sagt Herbert Buscher vom Institut für Wirtschaftsforschung Halle (IWH). Dafür hat der Staat den Ostländern zwar 1 Milliarde Euro versprochen. „Aber wie bei den Solidarpakt-Geldern ist fraglich, ob das Geld überhaupt bei den Kommunen ankommt“, sagt Puscher. Denn der Bund kann den Ländern nicht befehlen, wofür sie die Milliarde ausgeben sollen.
Der IWH-Forscher sieht die Auswirkungen von Hartz IV aber insgesamt weniger dramatisch als seine Kollegen Ribhegge und Seitz. So gebe es zum Kaufkraftverlust keine seriösen Zahlen. „Außerdem werden die meisten Produkte aus dem Westen importiert“, sagt Puscher, „der sinkende Konsum trifft also vor allem den Westen.“ Puscher ist sich aber mit seinen Kollegen einig, dass die Schwächen von Hartz IV schon seit Dezember 2003 bekannt waren. „Schon damals hätte man das Gesetz auf seine Ost-Verträglichkeit untersuchen sollen, anstatt jetzt in Panik zu verfallen“, sagt Pucher.
Zu den Forderungen der Ministerpräsidenten, mehr in den zweiten Arbeitsmarkt zu investieren, meint Puscher: „Das wird wohl so kommen, wahrscheinlich heißt es aber nicht ABM, sondern anders.“ Dem stimmt auch Seitz zu, erwartet aber keine Verbesserung für den ersten Arbeitsmarkt: „Das ist eine sozialpolitische Maßnahme, anders kriegen sie für einen 50-jährigen Langzeitarbeitslosen im Osten einfach keine Arbeit mehr.“ DAS