Dem Leben hinterher

Drei Filme, drei Paare, drei Genres: Der belgische Regisseur Lucas Belvaux hat eine Trilogie gedreht, in der die Nebenfiguren des einen Films die Hauptfiguren des nächsten sind. „Ein umwerfendes Paar“, „Auf der Flucht“ und „Nach dem Leben“ verzahnen sich wie eine Präzisionsmaschine

VON ANJA STREITER

Der Filmschauspieler und Regie-Autodidakt Lucas Belvaux drehte 1992 seinen ersten Spielfilm, „Parfois trop d'amour“ („Manchmal zu viel Liebe“), nachdem er für Rivette, Chabrol und Olivier Assayas gespielt hatte. Schon damals fand er, dass die Nebenfiguren seines Filmes je einen eigenen Film verdient hätten. Diese demokratisch anmutende Idee einer Ausweitung des Blickfeldes auf alle möglichen Perspektiven und Binnengeschichten hat Belvaux 2002 in einem großen Projekt gleich in drei sich aufeinander beziehenden Filmen umgesetzt: „Un Couple épatant“, „Cavale“ und „Après la vie“. Wie die drei Filme selbst lassen sich auch ihre Titel sowohl je für sich als auch als Einheit verstehen: „Ein umwerfendes Paar“, „Auf der Flucht“, „Nach dem Leben“ oder auch: „Ein umwerfendes Paar rennt dem Leben hinterher“.

Diesmal geht es nicht um ein Zuviel, sondern um ein Zuwenig an Liebe. An deren Stelle ist der Machtkampf getreten, und aus dem demokratischen Projekt wurde ein paranoisches Panoptikum, eine Studie der Grundformen der Angst. Jeder verfolgt hier jeden, wird selbst verfolgt, beobachtet und abgehört, jeder will wissen, was ein anderer vermutlich oder tatsächlich zu verbergen sucht. Alle drei Filme erzählen linear, aus begrenzter Perspektive, nach den Regeln und in der Stimmung eines bestimmten Genres von den Ereignissen einer Woche, die sich in einem begrenzten Personenkreis und an einem begrenzten Ort – Grenoble und Umgebung – abspielen. Immer glauben sich die Hauptfiguren bedroht, sie agieren, immer anders motiviert, jeweils in Todesangst. Von Film zu Film verlagert sich das Zentrum der Aufmerksamkeit von einer Figurengruppe auf eine andere. Man findet sich in schon gesehenen Situationen wieder, dort aber an einem anderen Platz, in einer anderen Entfernung zu den Figuren. Man sieht alles in einer völlig anderen Stimmung und zugleich in einem immer differenzierteren Zusammenhang.

Dabei funktioniert jeder Film in sich wie ein Räderwerk, damit die drei Filme ineinander greifen und sich zu einer Präzisionsmaschine vereinen können. So wie die Figuren, so verfolgen auch die Filme einander, beleuchten das, was zuvor dunkel blieb, enthüllen das, was bisher verborgen war. Drei einander reflektierende Filme auf einmal zu drehen, verlangt vom Regisseur extreme Kontrolle und Übersicht. Belvaux meidet das Monumentale, liefert kein Geschichtsepos, sondern eine Schichtung von elliptischen Dramen. Die Totalität der Geschichte ist ein Palimpsest, ein Labyrinth und Mosaik.

Dennoch liegt dem Projekt eine gewisse Gigantomanie zugrunde, die inhaltlich wie formal thematisiert wird. Lucas Belvaux hat das Drehbuch geschrieben, Regie geführt und darüber hinaus eine Hauptfigur gespielt: die des aus dem Gefängnis ausgebrochenen politischen Gewalttäters Bruno le Roux in „Auf der Flucht“. Bruno, linker Aktivist einer während seiner Haftzeit untergegangenen „armée populaire“ funktioniert selbst wie eine Maschine. Sein Leben in dieser Woche ist eine ununterbrochene Abfolge von planmäßig ausgeführten Handlungen, eine Wiederholung eingeübter Handgriffe. Immer wieder montiert und demontiert er mit geschlossenen Augen seine Waffe, so wie ein Kameraassistent im Dunkelsack das Wechseln von Filmrollen übt. Sein Leben ist die Exekution eines veralteten ideologischen Programms, das keinen Bezug mehr zur Realität hat und sich mit keiner Masse, keinem Genossen, keinem Sympathisanten mehr verzahnt, sondern nur noch heißläuft. Das ist das Mittelstück der Trilogie, der Thriller, der auch etwas über die Maschinerie des Inszenierens erzählt.

In der Komödie „Ein umwerfendes Paar“, dem ersten Teil, versuchen ein Erfinder und seine Frau, zunächst in bester Absicht, einander zu manipulieren. Dabei verlieren sie das Vertrauen ineinander und produzieren eine vom Witz in den Irrwitz kippende Fiktions- und Verfolgungsmaschinerie. Aus Liebenden werden Kriegführende. Der von der Ehefrau als Privatdetektiv eingesetzte Polizist (Gilbert Melki) verfolgt hauptberuflich Bruno le Roux, der wiederum auf seiner Flucht der Frau des Polizisten begegnet und ihr das Leben rettet. Der Polizist und seine Frau stehen im Zentrum des psychodramatischen „Nach dem Leben“; sie führen eine Beziehung, deren geheimes Zentrum, die psychische und physische Abhängigkeit, sie bisher verborgen hielten.

So zeigt jeder Film seine Hauptfiguren als von einer Wahnwelt umschlossen. Dieser Eindruck wird durch die Durchdringungen und Überlagerungen der Geschichten noch verstärkt, weil die Hauptfiguren eines Filmes das Leben der Hauptfiguren der anderen Filme nur streifen, ohne es aber zu verstehen oder zu teilen. Es ist ein heilloses Weltbild. Das Ganze wäre so unerträglich, wie es Filme von Michael Haneke sein können, wäre da nicht die Liebe – die zu den Figuren und ihren DarstellerInnen, die die Inszenierungsarbeit von Lucas Belvaux prägt. Die Vervielfältigung der Perspektiven, die immer neue Aspekte der Figuren zum Vorschein bringen, geben ihnen eine Daseinsberechtigung über ihrer Funktion in einem Szenario hinaus. Keine Figur wird verurteilt oder fallen gelassen. Gleichzeitig rücken Kameraarbeit und Schauspielführung die DarstellerInnen ins Zentrum der Fiktionsmaschine, machen sie zum zu ergründenden Geheimnis, zum Leben, das sich der Kontrolle entzieht.

„Ein umwerfendes Paar“ startet heute, „Auf der Flucht“ am 22. Juli, „Nach dem Leben“ am 29. Juli